Ambler by Ambler
etwa Technisches Zeichnen oder Schlosserhandwerk. Eine Zeitlang versuchte ich, Interesse für den Kurs »Kabelverlegen für Fernmeldeingenieure« aufzubringen. Ich besuchte auch ein paar Vorlesungen zur Phlogistontheorie. Sie wurden von einem konfusen alten Mann gehalten, der uns glauben machen wollte, daß Phlogiston im achtzehnten Jahrhundert das Wort für Sauerstoff gewesen war und daß Lavoisier seine Verbrennungslehre bei dem ehrbaren englischen Chemiker Joseph Priestley geklaut hatte. Bald fing ich an zu schwänzen.
Anfangs war das schlechte Gewissen noch erträglich. Als Universitätsangehöriger und Student der Ingenieurwissenschaften durfte ich die Bibliothek des Institute of Electrical Engineers benutzen. Eine Weile verbrachte ich meine Vormittage dort mit Theory and Calculation of Alternating Current Phenomena von Steinmetz oder mit der Lektüre der neuesten wissenschaftlichen Zeitschriften. Dann fing ich an umherzustreifen. Das Institut lag am Themseufer, nur wenige Minuten vom Gerichtsviertel entfernt. Bald verbrachte ich ganze Vormittage auf den Zuschauertribünen der King’s Bench Division, des Schwurgerichts oder des Appellationsgerichtshofs.
Ein unreifer Jugendlicher hätte seine Zeit an ungeeigneteren Orten verbringen können. Ich erfuhr etwas von den Regeln der Prozeßführung und gewann allmählich den Eindruck, daß jeder im Gerichtssaal ein Schauspieler war. Einige der dargebotenen Nummern waren allerdings schon ziemlich altbacken. In kb 7 etwa gab es einen Richter Horridge, der einen dummen Witz zu reißen pflegte und dann, wenn er sein Gelächter bekommen hatte, mit der Räumung des Gerichtssaals drohte. Die besten, freilich auch die schlechtesten Auftritte wurden von Zeugen geliefert.
Bei einem der ersten Prozesse, die ich verfolgte, ging es um Nichterfüllung eines Eheversprechens. Derartige Prozesse, damals schon etwas Ungewöhnliches, wurden im Schwurgericht eigentlich nur noch dann verhandelt, wenn es um aristokratische Namen oder reiche Männer ging. Es war daher merkwürdig, daß Mr. Norman Birkett, der bereits ein berühmter und teurer Kronanwalt war, die Klägerin vor Gericht vertrat, eine ungepflegte, bläßliche alte Jungfer. Ihr Verführer, der Untermieter, war ein ungepflegter, bläßlicher Junggeselle. Ihre jeweiligen Auftritte unterschieden sich jedoch beträchtlich. Der Frau gelang es, während ihrer Aussage ein paar verschämte Tränen zu vergießen. Ihr Verführer wurde von einem nervösen Zucken gepeinigt, das zuweilen sehr gefährlich nach einem Grinsen aussah. Mr. Birkett brauchte also nur den Mund zu spitzen und seelenruhig zu fragen, was der Beklagte im Gerichtssaal oder an der Verhandlung denn so lustig fände, und dann war die Sache auch schon gelaufen. Die Geschworenen erteilten ihm, dem Beklagten, eine Abfuhr, und abermals war mir vorgeführt worden, wie wichtig es war, der Welt unbewegten Gesichts gegenübertreten zu können.
Der Fall hatte mich aus einem anderen Grund interessiert. Wenn ich nicht die Aussagen gehört hätte, dann wäre mir der Gedanke, daß dieses langweilige Paar es tatsächlich geschafft haben sollte, sich geschlechtlich zu vereinigen, unendlich weit hergeholt erschienen. Sie waren unverheiratet, was für derart unansehnliche Menschen ein unüberwindliches Hindernis hätte darstellen müssen. Doch so häßlich sie auch sein mochten, so sehr sie die romantischen Qualitäten einer Pola Negri oder eines Ralph Ince auch entbehren mußten, irgendwie hatten sie es geschafft, miteinander zu schlafen, und zwar nicht nur einmal, sondern mehrere Male. Das gab mir zu denken. Hatte ich etwa die Schwierigkeiten überschätzt? Oder war Wollust ebenso blind und allgewaltig, wie es von der Liebe gesagt wird? Wenn ja, dann durften die Scheusale und Schreckgespenster in aller Welt hoffen. Dann durfte auch ich hoffen.
Ich begann, mein Schwänzen zu planen. In der Mitte der Woche, wenn es Matineevorstellungen gab, ging ich ins Theater. An anderen Nachmittagen, sofern kein interessanter Prozeß anstand, den ich tagsüber verfolgen konnte, ging ich ins Kino. Ich trug jetzt eine Aktentasche mit mir herum, die vollgestopft war mit Büchern und Unterlagen für alle möglichen Anlässe. Einige der Unterlagen – eine Nummer der vierteljährlich erscheinenden Institutszeitschrift und Bekanntmachungen der Studentenvereinigung und dergleichen – waren zum Vorzeigen in Notfällen gedacht. Das Exemplar von Jevons Leitfaden der Logik war nur teilweise zum Vorzeigen
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