Ambler by Ambler
anerkannte Kapazität. Es hatte sich indes herausgestellt (weiß der Teufel, durch wen), daß er einen jüdischen Vorfahren hatte. Er war Achteljude, vielleicht auch weniger. Es reichte jedoch, um ihn von seinem Lehrstuhl zu entfernen und jene traurige Gestalt aus ihm zu machen, wie ich sie kannte.
Ich konnte seine Lage sehr gut verstehen. Mein Bruder Maurice hatte ein deutsches Mädchen geheiratet, dessen Vater Rektor an einer Schule in Leverkusen und als solcher zur Mitgliedschaft in der NSDAP verpflichtet war. Damit die Ehe auch in Deutschland rechtsgültig war, mußte mein Bruder nach Köln fahren und die dortigen Behörden von der arischen Reinheit des Amblerschen Blutes überzeugen. Geburtsurkunden waren zwecklos. Verlangt wurden Abstammungsnachweise. Taufscheine und Konfirmationsurkunden und schriftliche Bestätigungen von anglikanischen Geistlichen mit eindeutig englischen Namen waren die Sorte Nachweis, die man sehen wollte. Die Tatsache, daß mein Bruder damals eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem jungen Robert Donat hatte, erwies sich als abträglich. Ausländische Filmstars waren suspekt, selbst wenn es sich um arisch aussehende Engländer handelte.
An einem dieser spannungsgeladenen Tage während der Münchener Konferenz erhielt ich einen Brief von Betty. Sie schrieb, in Paris seien Gerüchte aufgekommen, daß man die Stadt, wenn (nicht: falls, sondern: wenn) der Krieg ausbrach, sogleich zur offenen Stadt erklären und nicht bombardieren würde. Es werde immer schwieriger, ein Hotelzimmer zu finden. Bankguthaben könnten jede Minute eingefroren werden. Ein paar Stunden später kam ein Telegramm von ihr. Ich weiß nicht mehr genau, was darin stand, aber es klang sehr aufgeregt. Yves würde in Kürze eingezogen. Er brauchte französisches Geld. Sie bräuchte englisches Geld sowie moralische Unterstützung, und zwar sofort.
Das mit dem Geld nahm ich ihr nicht ab. Sie hatte genug englisches Geld, und Yves hatte einen Job als Tuchvertreter. Aber es bestand für mich kein Grund, noch länger in London zu bleiben. Meine Mutter spielte mit dem Gedanken, sich wieder zu verheiraten, mit Arthur Waters, und meine Anwesenheit würde dem Fortgang der Dinge eher hinderlich als förderlich sein. Ich war ausgesprochen dafür. Außerdem wollte ich mit Dimitrios vorankommen, und in Paris arbeitete ich besser. Ich rief bei BEA an und ließ mir einen Platz in der Abendmaschine nach Paris reservieren.
Man war höflich, wie immer damals, doch dieses Mal lag auch Überraschung in der Stimme. Als ich in Northolt ankam, wurde mir klar, warum. Ich war der einzige Passagier, der nach Paris wollte. Die beiden Maschinen aus Paris seien ausgebucht gewesen. Niemand in Paris glaube, daß die Deutschen es wagen würden, Luftangriffe auf London zu fliegen. Alle in Paris glaubten, daß die Deutschen, falls München ergebnislos ausgehe, zuerst Paris bombardieren würden. Ob ich tatsächlich dorthin wolle?
Jawohl, ich wollte. Einziger Passagier in einer Linienmaschine zu sein, selbst wenn es sich um eine alte, klapprige und laute Electra handelte – war etwas, das ich mir nicht entgehen lassen wollte. Während des Flugs gab es Whisky-Soda und Sandwiches, die ich mit der Kabinenbesetzung teilte. Beim Anflug auf Le Bourget wurden aus dem Cockpit ungewöhnliche Dinge gemeldet. Einige Städte hätten verdunkelt, bestimmt versuchsweise. Die meisten, auch Paris, schienen eher noch heller zu sein als sonst.
Ich fand Betty ziemlich aufgebracht vor. Yves beschwor sie dummerweise, doch vernünftig zu sein. Es sei doch ganz klar, daß man Gerüchten nicht trauen dürfe. Eines Tages heiße es, Paris sei offene Stadt und werde nicht bombardiert. Das dürfe man natürlich nicht glauben. Nun, zwei Tage später, soll Paris ein Angriffsziel sein, wenn nicht das Angriffsziel, wie manche meinten. Wer könne das schon sagen? In den Cafés am Boul’ Miche säßen heute schon Leute, die den genauen Zeitpunkt des Angriffs wüßten. Morgen um 12 Uhr mittags.
London würde bestimmt später in einer zweiten Angriffswelle bombardiert werden.
Betty und Yves wohnten in Montparnasse. Ich quartierte mich also wieder im ›Libéria‹ ein, um in ihrer Nähe zu sein. Am Tag darauf, dem letzten Tag der Münchener Konferenz, spazierten wir drei zum Boulevard Saint-Michel hinüber, um die Prophezeiungen der Gerüchteküchen zu überprüfen.
Es war wirklich ein Erlebnis. Dem Gerücht vom bevorstehenden Luftangriff waren zahlreiche Leute aufgesessen. Die Cafés
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