Ambler by Ambler
waren brechend voll. Dann, etwa zehn vor zwölf, standen alle auf und gingen hinaus auf die Straße, um an den Himmel zu sehen. Wir alle wollten rasch noch einen Blick auf den riesigen deutschen Bomberverband werfen, der gekommen war, uns und die Stadt zu vernichten. Viele von uns rechneten damit, getötet zu werden. Die so oft beschriebenen Luftangriffe auf spanische Städte und der Glaube an die Allmacht des Bomberflugzeugs, der in den dreißiger Jahren von bekannten Fachleuten genährt worden war, hatten zu der verbreiteten Überzeugung geführt, daß unmittelbar nach einer Kriegserklärung ein Luftangriff folgen würde, gegen den es keinen wirksamen Schutz gebe. Durch Filme war man in dieser Auffassung noch bestärkt worden. Es war nicht bloß ein allgemeiner Irrglaube. Umsichtige Kommunalbehörden in ganz Westeuropa hatten genau ausgerechnet, welch furchtbare unmittelbaren Verluste nach einem Luftangriff zu erwarten seien und welche anderen Folgen ein derartiges Massaker nach sich zöge. Sie demonstrierten keineswegs ein Übermaß an Phantasie. Sie glaubten lediglich, was ihnen die Luftfahrtexperten gesagt hatten. Fast überall wurden Dinge wie Schlafsäcke, Särge, Notstromaggregate und Wasserfilter in viel zu großer Zahl bereitgestellt. In einigen Städten hatte man jahrelang mit dem Problem zu tun, irgendeinen unauffälligen Lagerraum für die Särge zu finden. Anderswo benötigte man diese Sachen natürlich später und konnte sie noch verwenden. Doch anfangs war man allenthalben auf ein apokalyptisches Armageddon à la H. G. Wells eingestellt.
Auch wir waren darauf eingestellt, als wir an diesem Septembermittag auf dem Boulevard Saint-Michel standen und zum Himmel sahen. Was wir dann, etwa eine Minute vor dem kritischen Moment, hörten, war das sanfte Brummen eines vereinzelten Passagierflugzeugs. Vermutlich befand es sich im Anflug auf Le Bourget. Das Wort »Aufklärer« wurde herumgeflüstert. Als nach einer Stunde aber noch immer nichts passiert war, gingen die Leute wieder in die Cafés hinein. Zwei Stunden später hatte der ›Paris-Soir‹ ein Extrablatt herausgebracht, in dem die Unterzeichnung des Münchener Abkommens gemeldet wurde, der erste Schritt zu einer Verstümmelung der Tschechoslowakei. Alle waren sehr erleichtert. Über Verrat regten wir uns nicht mehr groß auf, und mit Hilfe der Nazis konnten wir uns sogar die entsprechenden Begründungen zurechtlegen.
Da es noch immer warm war, blieb ich im ›Libéria‹ und arbeitete am Dimitrios . Dann, irgendwann im November, bekam ich einen Brief von Allan Collins, der mich fragte, ob ich nicht Lust hätte, im nächsten Jahr nach New York zu kommen. Er habe gehört, daß die American Export Line einen regelmäßigen Frachtdienst zwischen England und New York unterhalte. Es seien kleine Schiffe, die neben der Fracht auch ein paar Passagiere für relativ wenig Geld mitnähmen. Ich könne mich ja mal erkundigen. Daß Knopf für die Reisekosten aufkäme, sei natürlich ausgeschlossen, aber es würde Zeit, daß ich mir die New Yorker Verlagsszene mal ansähe und mit einigen Leuten zusammenträfe, die im Verlag Knopf neben Alfred noch etwas zu sagen hätten.
Mehrere Faktoren bewirkten, daß ich mich für diese Idee erwärmte. Ich hatte Schwierigkeiten mit Dimitrios . Ich wußte, daß es etwas ganz Neues sein würde und daß ich nur das Beste abliefern dürfte. Ich hatte zu schnell schreiben wollen. Die hundert Pfund Vorschuß brauchte ich gar nicht so dringend. Ich hatte ja Filmgelder auf dem Konto. Und auch die defekte Heizung des ›Libéria‹ machte sich mir wieder bemerkbar, massive, gußeiserne Apparate mit Blumenmustern, wie sie auf viktorianischen Wandbehängen verwendet wurden. Sie sahen nicht so aus, als hätten sie je funktionieren sollen. Zum Schreiben kauerte ich mich an den Heizkörper, wurde aber nie richtig warm. Ich dachte auch an das Badezimmer, das ich mit dem ›Hôtel de l’Université‹ leichtfertig aufgegeben hatte. Betty und Yves hatten ewig Streit. Betty wollte in Martinique oder Gouadeloupe wohnen, Yves nicht. Die meisten Gäste des ›Flore‹ waren weiter südwärts gefahren, nach Fez oder Marrakesch etwa. Die Vorstellung, eine Schiffsreise zu unternehmen, wohin auch immer, bekam plötzlich etwas sehr Verlockendes. Ich schrieb Allan Collins, daß er mich in ein paar Wochen in New York erwarten könne. Immerhin war er so umsichtig, mir postwendend mitzuteilen, daß der Januar und Februar für einen ersten New-York-Besuch
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