Ambler-Warnung
Notizen.
Nachdem er fast eine ganze Seite mit seiner ordentlichen Handschrift gefüllt hatte, sah er auf und schluckte mühsam. »Adrian, ich werde verreisen. Nach Paris. Ich mache dort Ferien.« Er versuchte, sich sein Entsetzen nicht anmerken zu lassen.
»Das ist ja super«, sagte Adrian mit unangebrachter Begeisterung. »Ein, zwei Wochen?«
»Wahrscheinlich« sagte Caston. »Was nimmt man normalerweise auf so eine Reise mit?«
»Wollen Sie mich veralbern?«, fragte Adrian.
»Das ist keineswegs meine Absicht.«
Adrian schürzte nachdenklich die Lippen. »Was nehmen Sie denn sonst immer in den Urlaub mit?«
»Ich gehe nie in den Urlaub«, sagte Caston gelassen.
»Ich meine, wenn Sie verreisen.«
»Ich verreise äußerst selten. Genau gesagt nie. Na ja, wir holen die Kinder vom Sommerlager ab. Zählt das auch?«
»Nein«, sagte Adrian. »Ich glaube nicht. Aber Paris wird Ihnen gefallen. Sie werden viel Spaß dort haben.«
»Das bezweifle ich sehr.«
»Warum reisen Sie dann nach Paris?«
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich Urlaub mache, Adrian«, sagte Caston mit einem starren Wolfsgrinsen. »Die Reise hat nicht das Geringste mit meiner Arbeit zu tun. Und überhaupt nichts mit unserer Ermittlung. Die ich auf offiziellen Befehl hin abbrechen muss, wie ich gerade erfahren habe.«
Man sah Adrian an, dass ihm allmählich ein Licht aufging. »Das finden Sie sicher – merkwürdig.«
»Sehr.«
»Es grenzt an eine Anomalie.«
»So ist es.«
»Haben Sie irgendwelche Anweisungen für mich, Shifu ?«, fragte Adrian mit gezücktem Kugelschreiber. Seine Augen glänzten vor Aufregung.
»Jetzt, da Sie es sagen, fällt mir das eine oder andere ein.« Caston gestatte sich ein kleines Lächeln und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Hören Sie mir gut zu, kleiner Grashüpfer.«
Kapitel zwanzig
Paris
Die Rue Saint-Florentin, die ein paar Hundert Meter von der Place de la Concorde entfernt liegt, ist eine elegante Straße mit Häusern im Haussmann-Stil, deren hohe, doppelt verglaste Fenster von filigranen schmiedeeisernen Balkons geschmückt werden. Rote Balustraden schützen die Schaufenster der teuren Geschäfte und Parfümerien, zwischen denen die Botschaften der unterschiedlichsten Nationen liegen. In der Rue Saint-Florentin 2 zum Beispiel die Konsularabteilung der amerikanischen Botschaft.
Und dies war der letzte Ort, an dem Ambler sein Gesicht zeigen durfte. Aber was wie bodenloser Leichtsinn aussah, war in Wirklichkeit eine wohldurchdachte Entscheidung.
Nach den Ereignissen im Jardin du Luxembourg zweifelte Ambler nicht daran, dass alle Cons-Ops-Büros der Welt auf Tarquin angesetzt worden waren. Paradoxerweise konnte er genau diese Wachsamkeit für seine Zwecke nutzen.
Man konnte fast alles finden, wenn man nur wusste, wonach man suchte. Und Ambler wusste es sehr genau. Er wusste, dass die Verwaltungsaufgaben und Dienstleistungen, die in der »Konsulatsabteilung« der Rue Saint-Florentin 2 erledigt und angeboten wurden, die perfekte Tarnung für eine Cons-Ops-Station boten. Im Erdgeschoss standen hilflose Touristen, die ihre Pässe verloren hatten, in langen Warteschlangen. Wenn sie an der Reihe waren, füllten sie die Formulare aus, die ihnen ein Angestellter reichte, der so viel Energie und Lebensfreude ausstrahlte wie ein Bestattungsunternehmer. Nicht-Amerikaner
durften sich besonders wenig Hoffnung auf Effizienz machen. Visa-Anträge wurden im Schneckentempo bearbeitet. Und zwar dem einer Schnecke mit Parkinson.
Kein Besucher oder Konsulatsangestellter hatte sich je gefragt, was in den oberen Etagen vor sich ging oder warum die Angestellten dort andere Gebäudereiniger beschäftigten und andere Ein- und Ausgänge benutzten als die der Abteilung für Visa und Pässe.
In den oberen Etagen residierte Cons Ops, Sektor Paris. Eine Einrichtung, deren amerikanische Führungskräfte – wie Fentons Bericht bewies – entschieden hatten, dass ein ehemaliger HVA namens Tarquin nicht mehr zu retten war.
Ambler würde sich in die Höhle des Löwen wagen. Aber nur, wenn er sicher sein durfte, dass der Löwe außer Haus war.
Der Löwe, das war Keith Lewalski, ein korpulenter Mann um die sechzig, der Consular Operations, Sektor Paris, mit eiserner Hand führte. Seine Paranoia war legendär und hätte besser in das Moskau der fünfziger Jahre als ins moderne Westeuropa gepasst. Der Abscheu und die Verachtung, die er bei seinen Untergebenen weckte, waren ihm völlig gleichgültig; seine
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