Ambler-Warnung
seine Grundmauern umgaben und auch im Winter einen Burggraben aus stacheligen grünen Blättern um das Haus bildeten. Einen sicheren Hafen stellte man sich normalerweise anders vor, und Ambler wusste nicht, ob er dort Sicherheit finden würde. Aber er musste es herausfinden.
Er klingelte und wartete. Vielleicht war sie ja gar nicht zu Hause.
Er hörte Schritte, und eine weitere Frage stieg in ihm auf. Ob sie allein war? In der Garage stand nur ein Auto, ein alter Corolla, die Einfahrt war leer. Er hatte keine Stimmen gehört, kein Zeichen von Mitbewohnern entdeckt. Aber das bewies noch gar nichts.
Die Vordertür wurde einen Spalt geöffnet, eine Sicherheitskette spannte sich.
Er blickte in vor Schreck geweitete Augen.
»Bitte tun Sie mir nicht weh«, sagte Laurel Holland mit leiser, ängstlicher Stimme. »Bitte gehen Sie einfach weg.«
Und damit schlug die Schwester, mit deren Hilfe Ambler von Parrish Island geflohen war, ihm die Tür vor der Nase zu.
Er erwartete, dass sie schnell zum Telefon laufen und eine Notfallnummer wählen würde. Die Haustür bestand aus billiger, braun gestrichener Holzfaserplatte mit aufgeklebten Verzierungen. Die Kette war ein Witz. Er hätte sie mit einem
kräftigen Stoß aus der Verankerung reißen können. Aber das kam nicht infrage. Ambler hatte nur diese einzige Chance. Er durfte sich keinen Fehler erlauben.
Sie war von der Tür zurückgewichen, aber er spürte, dass sie immer noch unbeweglich gleich dahinter stand. Als wäre sie aus lauter Unsicherheit und Unschlüssigkeit zur Salzsäule erstarrt.
Er klingelte erneut. »Laurel«, sagte er.
Im Haus blieb alles ruhig, sie lauschte. Alles hing von seinen nächsten Worten ab.
»Laurel, ich werde gehen, wenn du das willst. Ich verschwinde, und du wirst mich nie wiedersehen, das verspreche ich. Du hast mir das Leben gerettet, Laurel. Du hast etwas gesehen, was sonst niemand gesehen hat. Du hattest den Mut, mir zuzuhören und deinen Job zu riskieren – du hast getan, wozu niemand sonst bereit war. Und das werde ich dir nie vergessen.« Er legte eine kurze Pause ein. »Aber ich brauche dich, Laurel. Ich brauche noch einmal deine Hilfe.« Er wartete endlose Sekunden lang. »Bitte verzeih mir, Laurel. Ich werde dich nie wieder belästigen.«
Er drehte der Tür mit schwerem Herzen den Rücken zu und stieg die zwei Stufen der Vorderveranda hinunter. Dabei beobachtete er die Straße vor dem Haus forschend. Es war kaum möglich, dass man ihn verfolgt hatte – und bestimmt wäre niemand auf die Idee gekommen, dass er einer Angestellten der Parrish-Island-Klinik einen Besuch abstatten würde -, aber er wollte trotzdem sichergehen. Die Strecke von New York bis hierher hatte er mit einem Taxi und zwei Mietwagen bewältigt. Während der ganzen Fahrt hatte er den Verkehr auf etwaige Verfolger überprüft. Bevor er zu dem Haus gegangen war, hatte er sorgfältig das gesamte Viertel erkundet, in dem sie wohnte. Und es war alles in bester Ordnung
gewesen. Jetzt, am Nachmittag, lag die Straße wie ausgestorben da. Nur ein paar Autos waren zu sehen. Menschen, die wie Laurel Holland Frühschicht hatten und jetzt zu Hause darauf warteten, dass ihre Kinder von der Schule kamen. Aus den offenen Fenstern einiger Ranchhäuser hörte man Gameshows, aus anderen Fenstern tönten Softrocksender. Überall dort waren Hausfrauen – eine Spezies, die eisern überlebte, obwohl viele Berichte warnten, sie sei vom Aussterben bedroht - damit beschäftigt, zu bügeln oder die Möbel aus dem Möbelhaus mit Politur einzureiben.
Er hörte, wie die Tür hinter ihm geöffnet wurde, bevor er bei der Einfahrt angelangt war. Er drehte sich um.
Laurel Holland schüttelte den Kopf, als verstehe sie nicht, warum sie es gewagt hatte, die Tür wieder zu öffnen. »Komm schnell rein«, sagte sie, »bevor ich wieder bei Verstand bin.«
Wortlos betrat Ambler das bescheidene Haus und sah sich um. Spitzenvorhänge. Ein billiger Importteppich lag auf dem billigen Laminatboden in Eichenoptik. Ein unauffälliges Sofa, das aber mit einem interessant aussehenden Überwurf aus besticktem, orientalisch wirkendem Stoff bedeckt war. Die Küche war noch nie renoviert worden und so alt wie das Haus selbst. Die Arbeitsflächen waren aus Linoleum, die Küchenschränke ockerfarben, der Boden aus dem Vinyl mit Rautenmuster, das man von der Rolle kauft.
Laurel Holland wirkte verängstigt und wütend, hauptsächlich allerdings wütend auf sich selbst. Und sie war wunderschön. In Parrish
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