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Ambra

Ambra

Titel: Ambra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabrina Janesch
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schoss das Licht auf die Stadt am Meer hinab, hüllte alles in gleißende Helligkeit und ließ die Stadt für einen Augenblick kurz nach Sonnenaufgang verschwinden: verschmolzen zu einem einzigen hauchfeinen Strahlenbündel, ausradiert von der Landkarte und von der Erdoberfläche, nur mehr energetischer Zustand, ein Punkt extremer elektromagnetischer Aktivität. Natürlich musste in genau diesem Moment irgendwo über der Küste eine Möwe aufsteigen und das Strahlenbündel in ein irreparables Schwingen, Zittern, Vibrieren bringen, und einige Millisekunden später fuhren wieder Straßenbahnen und benzinbetriebene Autos durch die Stadt, und die Menschen kauften mit Rosenmarmelade gefüllte Teigbällchen und Schwarztee mit einem Schuss Zitrone in Styroportassen und standen mit ihren Utensilien verschlafen an Haltestellen und Ampeln.
    Seit das erste Schneeglöckchen in einem unordentlichen Vorgarten des Villenviertels den Erdboden durchstoßen hatte, erschien es nur noch wenigen unmöglich, dass der Frühling tatsächlich in die Stadt kommenwürde; es ging das Gerücht um, dass der Frühling bereits Portugal erreicht hatte, und so war es nur noch eine Frage der Zeit, bis er die Ostsee und ihre Küste aufgewärmt und die Menschen erlöst haben würde. Einzig Bartosz Mysza hielt an seiner Behauptung fest, dass dieser Winter niemals ein Ende finden würde, und zog sich vorsorglich eine Erkältung zu.
    Als er nachmittags in der Pfandleihe anrief und sich bei Kinga für den Tag entschuldigte, schwieg Kinga für einen Moment. Magda, die Kellnerin aus dem Varieté, war gerade zu ihr herübergekommen, kaute an einem Wurstbrötchen und schüttete zwischen zwei Proben ihr Herz aus.
    Kinga hörte Bartosz’ Atem im Telefon, und als sie sich gesammelt hatte, fragte sie ihn betont ruhig, warum er überhaupt ein Geschäft eröffnet habe, wenn er doch so gut wie nie da sei. Auf Bartosz’ Erwiderung hin, dass er krank sei, fragte sie ihn, ob er sich nicht endlich professionelle Hilfe suchen wolle. Seine seelischen Probleme würden nicht nur ihn allein belasten.
    Daraufhin war nur mehr ein Gemurmel vernehmbar, dem Kinga entnahm, dass sie grausam sei und eine Zumutung. Dann hängte Bartosz auf, und Kinga warf ein belegtes Käsebrötchen an die Wand. Magda zuckte zusammen und bot an, später noch mal zurückzukommen, wenn es gerade nicht passen würde, und als sie darauf keine Antwort bekam, griff sie nach ihrer Kaffeetasse und verließ damit das Büro.
    Als sich kurze Zeit später das Brötchen mitsamt dem Käse von der Wand gelöst, aber noch immer keine Kunden das Geschäft betreten hatten, griff Kinga zu ihrer Jacke und beschloss, das Geschäft früher als gewöhnlich zu schließen. Die Dämmerung hatte eingesetzt, ein fahlesLicht zitterte zwischen den Hinterhöfen, und wäre Kinga ein Stück weiter nach Süden gegangen, in die Schneise zwischen zwei Häuserblocks, hätte sie den Sonnenuntergang sehen können.
    Kingas Magen fühlte sich an wie eine prallgefüllte Fleischpastete. Heimlich hatte sie die Knöpfe ihrer Jeans geöffnet und mit der Müdigkeit gekämpft, die zusammen mit den Piroggen gekommen war. Großmütig hatte Bronka beide Portionen der russischen Teigtaschen dagelassen, nicht ohne sich zu wundern, dass Bartosz nicht da war. Dann hatte sie Kinga ihrem Nägelkauen und der bohrenden Langeweile überlassen, die sich einstellte, wenn ein Geschäft nicht so lief, wie es sollte und seit Wochen Kunden sich nur sporadisch und häufig versehentlich sehen ließen. Die häufigsten Gäste in dem kleinen Ladenlokal, Kinga musste es sich eingestehen, waren die Künstler aus dem Varieté, die sich in den Pausen von ihr mit Kaffee und Kleinigkeiten bewirten ließen.
    Als Kinga sich ihre Jacke überzog und überlegte, ob es ein Fehler gewesen war, die Arbeit im Collegium aufzugeben – vorbei die Zeit der nächtelangen Ausschweifungen und der Geselligkeit –, musste ihr der Gedanke gekommen sein, dass Bartosz sie eigentlich doch gegen ihren Willen in dieses Geschäft eingespannt hatte, überzeugt war sie nie von dieser Idee gewesen, nein; einer regelrechten Gehirnwäsche hatte er sie unterzogen, wer weiß, vielleicht hatte er sogar irgendwelche militärischen Tricks angewandt, um sie zu manipulieren, zu sabotieren, und alles nur, weil sie verwandt waren und er sich einbildete, Anspruch auf sie und ihre Arbeitskraft zu haben.
    Kinga achtete darauf, dass der Schlüssel im Schlosszweimal knackte. Als sie ihn herauszog, bemerkte sie, dass

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