Amelia Peabody 01: Im Schatten des Todes
die Erklärung, auf die er wohl Anspruch hatte: »Lord Ellesmere ist Evelyns entfernter Verwandter. Wir trafen ihn kurz vor unserer Abreise in Kairo, und er sagte, er wolle die gleiche Reise machen. Wir rechneten damit, ihn in Luxor zu treffen. Er muß dann wohl die vor Anker liegende Philae gesehen und sich nach unserem Verbleib erkundigt haben.«
Ich war mit mir selbst recht zufrieden, denn ich dachte nicht daran, Evelyns Beziehung zu dem verstorbenen Lord Ellesmere beziehungsweise zu Lucas zu erörtern. Übrigens hatten beide Emersons kein Interesse an Skandalen, wenn es dabei nicht um altägyptische Pharaonen ging, und deshalb war anzunehmen, daß sie von Evelyns früheren Eskapaden nichts gehört hatten.
Evelyn war, wie ich sah, sehr blaß geworden, als sie die Annäherung ihres Vetters beobachtete, und Walter musterte sie erstaunt und bekümmert. In diesem Moment kam mir eine Erkenntnis. Ich wollte Walter für Evelyn; sie paßten ideal zueinander; er war ehrenhaft und liebenswert und würde sie gut behandeln. Wenn ich sie aufgeben mußte, dann wußte ich sie bei dem guten und zärtlichen Walter gut aufgehoben. Also sollte Evelyn ihren Walter bekommen, obwohl ich wußte, daß es nicht ganz einfach sein würde.
»Wollen Sie Ihrem Verwandten nicht entgegengehen und ihn begrüßen?« fragte Walter.
Evelyn erschrak. »Ja, natürlich«, antwortete sie ohne jede Begeisterung.
»Bleib hier«, sagte ich. »Michael soll Tee bringen. Ich gehe hinab.«
Lucas fiel mir mit einem Freudenschrei um den Hals, und weil mir das gar nicht behagte, mußte ich ihm einen ordentlichen Stoß versetzen, der mir einen vorwurfsvollen Blick von ihm einbrachte.
»Eine solche Warnung war nicht nötig, Miß Amelia«, hielt er mir vor. »Aber was tun Sie hier? Wer sind Ihre Freunde und warum …«
Natürlich gab es Erklärungen und die gegenseitige Vorstellung, aber als ich dann die Geschichte von der Mumie erzählte, hörte Lucas schweigend zu. Schließlich grinste er, und zum Schluß liefen ihm Lachtränen über das Gesicht.
»Das ist ja großartig! Oh, wie ich mich freue, diese wandelnde Mumie zu sehen! Ein solches Glück hätte ich wirklich nicht erwartet!«
»Es ist keineswegs sicher, ob Sie das Vergnügen einer solchen Begegnung haben werden, Lord Ellesmere«, sagte Walter. »Und warum sollten wir Sie mit unseren Problemen belasten? Wenn Sie die Damen in Sicherheit …«
»Sie werden mich doch nicht um ein solches Erlebnis bringen wollen«, protestierte Lucas.
»Nun, Lord Ellesmere, wenn Sie sich unserer Gruppe anschließen wollen, müssen Sie schon mich um Erlaubnis fragen«, warf da Emerson ein. »Ich werde Sie ja kaum daran hindern können, hier irgendwo ein Zelt für sich selbst aufzustellen.« Das war für Emerson eine beachtliche Rede, und Lucas wickelte ihn dann auch geradezu in seinen Charme ein. Emerson musterte ihn mit der Begeisterung, die ein alter, brummiger Hund einem verspielten jungen Terrier entgegenbringt, und schließlich erklärte er sich sogar bereit, Lucas einige der Gräber zu zeigen. »Besonders die Reliefs sind interessant«, bemerkte er. »Die alten Königsgräber wurden ja von diesen Halunken ausgeplündert, denn die Dorfbewohner verschleppen alles, was sie irgendwie zu Geld machen können.«
»An Königsgräbern bin ich im Moment sowieso nicht übermäßig interessiert, und dorthin ist es ja auch ziemlich weit, wie ich höre«, erklärte Lucas.
»Ihre Stiefel würden sicher darunter leiden«, bestätigte Emerson. »Aber über Amarna scheinen Sie einiges zu wissen, denn das königliche Grab hier steht nicht auf der Liste der Attraktionen für Touristen.«
»Oh, ich bin an allem interessiert, was Ägypten betrifft, und ich habe auch schon eine recht ordentliche Antiquitätensammlung. Ich will nämlich im Ellesmere Castle eine ägyptische Galerie einrichten.«
»Schon wieder eine Amateurkollektion, zusammengeramscht von einem Dummkopf«, fuhr Emerson auf.
»Da scheine ich ja einen empfindlichen Punkt getroffen zu haben«, meinte Lucas und lächelte Evelyn an.
Evelyn erwiderte das Lächeln nicht. »Mr. Emerson hat völlig recht, Lucas«, erwiderte sie. »Nur geschulte Archäologen sollten Ausgrabungen machen dürfen, denn die vielen zerbrechlichen und zerbrochenen Dinge können nur von geschulten Händen pfleglich behandelt werden. Es wäre besser, die Touristen würden nicht von Händlern kaufen, weil dadurch nur noch mehr Schaden angerichtet wird.«
»Du lieber Gott, ich ahnte ja nicht, daß du
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