Amelia Peabody 01: Im Schatten des Todes
zwischen Evelyn und dem Sims. Sie konnte sich also nicht in die Sicherheit zurückziehen. Die Spannung war unerträglich, und ich erhob mich langsam. In diesem Moment trat die Mumie in offenes Gelände heraus und stieß ein tiefes, stöhnendes Knurren aus, das Evelyn herumwirbeln ließ.
Drei Schritte war sie von dem Monster entfernt, mehr nicht. Evelyn griff sich an die Kehle und schwankte. Ich sprang auf, trat leider auf den Saum meines Kleides und lag der Länge nach auf der Nase. Und so sah ich, wie die Mumie sich Evelyn näherte. Sie schien vor Angst gelähmt zu sein. Ich wäre in einem solchen Fall längst davongerannt, und ich schäme mich nicht, das zuzugeben.
Da schrie ich. Evelyn stand noch immer wie versteinert da, und das Ding kam ihr immer näher. Und in diesem Moment kam die Rettung. Walter rannte in großen Sprüngen vom Grab her, warf sich vom Felsrand des Simses und fiel den Sandhang hinab. Gleichzeitig verließ Lucas seine Deckung hinter einem Steinhaufen. Ich war unbeschreiblich erleichtert. Er schrie und zog seine Pistole.
Die Mumie blieb stehen, wandte den Kopf von einer Seite zur anderen und schien zu überlegen, was jetzt zu tun sei. Ich versuchte meine Röcke zu raffen, um zu Evelyn zu rennen, doch ein Schrei von Lucas hielt mich auf. Er wollte nicht, daß ich in die Schußlinie geriete. Aber Lucas wollte nur drohen und nicht schießen. Ich bewunderte ihn wegen seiner Ruhe.
Langsam trat Lucas vor, der augenlose Kopf folgte seiner Bewegung. Die Kreatur tat einen gräßlichen, jammernden Schrei. Das war zuviel für Evelyn. Sie sank zusammen. Die Mumie stöhnte heftig und humpelte auf sie zu.
Ich war überzeugt, daß unter den Bandagen der Mumie nicht Mohammed stecken konnte. Diese Leute hatten einen heiligen Respekt vor Schußwaffen, und als ich das dachte, schoß Lucas. Der Donner hallte durch die Nachtstille.
Die Mumie zuckte zurück, eine verbundene Hand legte sich auf die Brust. Ich hielt den Atem an. Nein, sie fiel nicht! Sie jammerte und knurrte nur, bewegte sich aber weiter vorwärts. Lucas schoß noch einmal, diesmal aus einer Entfernung von etwa zwanzig Schritten. Wieder legte sich eine verbundene Hand auf die Stelle, wo die Kugel getroffen haben mußte, aber das Ungeheuer bewegte sich noch immer weiter vorwärts.
Auf Lucas’ blassem Gesicht standen dicke Schweißtropfen, sein offener Mund klaffte wie eine Wunde. Er fummelte in seiner Jackentasche. Offensichtlich mußte er seine Waffe nachladen.
Walter ließ sich weiter auf den steinigen Boden hinabfallen; er löste einen ziemlichen Steinrutsch aus, doch sein
Gleichgewicht verlor er nicht. Er erreichte den ebenen Boden und rannte weiter.
Lucas brüllte etwas, doch ich verstand es nicht, weil die rumpelnden Steine solchen Lärm machten. Endlich hob er wieder die Pistole. Ich schrie, doch es war zu spät. Walter konnte seinen Schwung nicht abbremsen und warf sich in dem Moment auf das Ungeheuer, als Lucas schoß. Und diesmal fand die Kugel ein verletzliches Ziel. Walter stand still wie ein Stock, dann drehte er langsam den Kopf Lucas zu. Seine Miene drückte Verblüffung aus. Dann gaben seine Knie nach, und er fiel auf dem Sand in sich zusammen.
Lucas stand wie versteinert da; die Pistole hing in seiner schlaffen Hand, und sein Gesicht war eine Maske des Entsetzens. Dann tat die Mumie etwas, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ – sie lachte, sie heulte vor Vergnügen, daß ich glaubte, die ganze Hölle sei losgelassen. Danach zog sie sich, noch immer lachend, zurück, und keiner der entsetzten Zuschauer vermochte es zu verhindern. Das Ding war schon längst um einen Felsen herum verschwunden, als ich noch immer das teuflische Gelächter hörte.
9. Kapitel
Emerson war schon vor mir bei Walter. Er riß seinem Bruder das blutige Hemd auf und schaute zu Lucas, der inzwischen ebenfalls herangekommen war.
»In den Rücken geschossen«, stellte Emerson mit einer Stimme fest, wie ich sie an ihm noch nie gehört hatte. »Lord Ellesmere, Ihre Jagdkollegen in England würden das schärfstens mißbilligen.«
»Mein Gott«, stotterte Lucas. »Das … wollte ich nicht. Ich warnte ihn doch. Um Himmels willen, Mr. Emerson, sagen Sie doch, er ist … nicht …«
»Nein, er ist nicht tot. Glauben Sie, ich würde mit Ihnen diskutieren, wenn Sie ihn erschossen hätten?«
Nun gaben meine Knie nach, und ich ließ mich in den warmen Sand fallen. »Gott sei Dank«, stöhnte ich.
Emerson warf mir einen mißbilligenden Blick zu.
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