Amelia Peabody 02: Der Fluch des Pharaonengrabes
fallen, den er im Arm trug.
»Peabody, meine Liebste!«
»Es ist alles in Ordnung«, versicherte ich ihm. »Ich bin nur ein bißchen müde, sonst nichts.«
Emerson setzte sich neben mich und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Du darfst mir nicht vorwerfen, daß ich mir Sorgen mache, meine Liebste. Ich kann mich nicht daran erinnern, dich jemals tagsüber im Bett gesehen zu haben – um dich auszuruhen, meine ich. Und«, fügte er mit einem belustigten Blick auf die schlafende Katze hinzu, »du siehst aus wie ein kleiner Kreuzfahrer auf einem Grabstein mit einem treuen Hund zu den Füßen. Was ist der Grund für diese ungewöhnliche Müdigkeit? Ist die Polizei hiergewesen?«
Ich gab ihm eine zusammenhängende, gut gegliederte Zusammenfassung der Ereignisse des Tages.
»Was für einen schrecklichen Tag du gehabt hast!« rief er aus. »Mein armes Mädchen, ich wünschte, ich hätte bei dir sein können.«
»Das wünschst du dir überhaupt nicht. Du bist erleichtert, den ganzen Wirbel verpaßt zu haben, insbesondere Madame.«
Emerson lächelte verlegen. »Ich gestehe, daß kein Lebewesen mich so aus der Fassung bringt wie Madame – abgesehen von dir, Liebling.«
»Mit jedem Tag wird sie widerwärtiger, Emerson. Sicher, die Wege der Vorsehung sind unergründlich, und ich würde im Traum nicht daran denken, ihr Walten in Zweifel zu ziehen, aber trotzdem muß ich mich immer wieder fragen, warum Madame Berengeria blüht und gedeiht, während gute, junge Männer wie Alan Armadale so grausam dem Leben entrissen werden. Es wäre ein Akt der Nächstenliebe, die Menschheit von ihr zu erlösen.«
»Aber, aber, Amelia, beruhige dich. Ich habe etwas für dich, das dein Gleichgewicht wiederherstellen wird; die erste Post von Zuhause.«
Als ich die Umschläge durchsah, traf ich auf einen mit einer bekannten Handschrift, und ein Gefühl, das ich solange aus nackter Notwendigkeit unterdrückt hatte, ließ sich nicht mehr beiseiteschieben. »Ein Brief von Ramses!« rief ich aus. »Warum hast du ihn nicht geöffnet? Er ist an uns beide adressiert.«
»Ich dachte, wir lesen ihn gemeinsam«, antwortete Emerson. Er streckte sich auf dem Bett aus, stützte den Kopf auf die Hände, und ich öffnete den Umschlag.
Ramses hatte im Alter von drei Jahren Schreiben gelernt und sich gar nicht erst mit der unbeholfenen Kunst der Druckbuchstaben abgegeben. Seine Handschrift wies, wenn sie auch noch nicht ausgebildet war, auf die Grundzüge seines Charakters hin; sie war groß, ausschweifend und mit stark betonten Satzzeichen. Am liebsten benutzte er schwarze Tinte und Federn mit breiter Spitze.
»>Liebste Mama, liebster Papa<«, las ich. »>Ich vermisse Euch sehr.<« Emerson gab einen erstickten Laut von sich und wandte den Kopf ab.
»Laß dich noch nicht vom Gefühl übermannen«, sagte ich und überflog die nächsten Zeilen. »Warte, bis du hörst, warum er uns vermißt. >Das Kinderfräulein ist sehr grausam und gibt mir keine Süßigkeiten. Tante Evelyn würde es tun, aber sie fürchtet sich vor dem Kinderfräulein. Also war ich, seit Ihr fort seid, nicht mehr in einem Süßwarenladen, und ich finde, Ihr wart grausam und böhse (ich gebe Ramses’ Orthographie genau wieder), weil Ihr mich zurückgelassen habt. Onkel Walter hat mich gestern verhauen …<« Emerson fuhr auf. Die Katze, die durch seine heftige Bewegung aufgeschreckt worden war, ließ ein verärgertes Knurren ertönen. »Dieser Schweinehund! Wie kann er es wagen, Hand an Ramses zu legen! So etwas hätte ich ihm nie zugetraut.«
»Ich auch nicht«, sagte ich zufrieden. »Bitte laß mich fortfahren, Emerson. >Onkel Walter hat mich gestern verhauen, nur weil ich ein paar Seiten aus seinem Leksikon gerissen habe. Ich habe sie gebraucht. Er haut sehr fest. Ich werde keine Seiten mehr aus seinem Leksikon reißen. Danach hat er mir beigebracht, wie man >Mama und Papa, ich liebe Euch< in Hieroglyphen schreibt. Hier steht es. Euer Sohn Ramses.<« Gemeinsam betrachteten Emerson und ich die unordentliche kleine Reihe von Bildzeichen. Die Zeichen verschwammen mir beim Ansehen ein wenig vor den Augen, aber – wie immer, wenn es um Ramses geht – dämpften Belustigung und Ärger meine Sentimentalität.
»Typisch Ramses«, sagte ich lächelnd. »>Lexikon< und >böse< schreibt er falsch, aber bei >Hieroglyphen< stimmt jeder Buchstabe.«
»Ich befürchte, du hast ein Ungeheuer an deinem Busen genährt«, pflichtete Emerson mir bei. Er fing an, die Katze unter dem Kinn zu
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