Amelia Peabody 02: Der Fluch des Pharaonengrabes
Soldaten wurden von Frauen begleitet, die Juwelen, schöne Kleider und alles, was Frauen so lieben, bei sich trugen. Als die Frau all diese schönen Dinge sah, verriet sie ihren Gatten. Sie erzählte den Soldaten von dem Herz im Zedernbaum, und die Männer fällten den Baum. Bata stürzte tot zu Boden, und die treulose Frau ging an den Hof des Pharaos.«
»Wie dem auch sei, es ist wie im Märchen vom Aschenputtel«, sagte Mr. O’Connell. »Die Haarlocke, der gläserne Schuh … «
»Wir wissen alle, was Sie meinen, Mr. O’Connell«, sagte ich.
Ohne eine Spur von Verlegenheit setzte O’Connell ein breites Grinsen auf. »Es schadet nie, sicherzugehen«, stellte er fest.
»Fahren Sie fort, Karl«, meinte ich.
»Eines Tages sah Anubis, der ältere Bruder, daß sich das Bier in seinem Becher getrübt hatte, und er wußte, was das bedeutete. Er suchte seinen Bruder, und er fand ihn und auch dessen Herz in dem gefällten Baum. Er legte das Herz in einen Becher Bier. Bata trank es und erwachte wieder zum Leben. Doch die Frau …«
»Sehr gut, sehr gut«, sagte Emerson. »Das haben Sie ausgezeichnet erzählt, Karl. Lassen Sie mich den Rest zusammenfassen, denn er ist genauso lang wie der Anfang und sogar noch unlogischer. Schließlich rächte sich Bata an seiner verräterischen Gattin und wurde Pharao.«
Eine Pause entstand.
»Ich habe mein Lebtag noch keinen solchen Unsinn gehört«, sagte Lady Baskerville.
»Märchen sollen unsinnig sein«, entgegnete ich. »Das macht einen Teil ihres Charmes aus.«
Die allgemeine Reaktion auf »Die Geschichte von den zwei Brüdern« ähnelte in etwa der von Lady Baskerville. Alle waren sich einig, daß Madames Anspielungen keine Bedeutung gehabt hätten; das Produkt eines verwirrten Geistes also. Emerson schien nichts dagegen zu haben, das Thema fallenzulassen. Und erst nachdem wir fast mit dem Abendessen fertig waren, kam er auf einen weiteren strittigen Punkt zu sprechen.
»Ich beabsichtige, die Nacht am Grab zu verbringen«, verkündete er. »Nach den Enthüllungen, die morgen bevorstehen, werde ich so viele Arbeiter und Wachen bekommen können, wie ich brauche. Bis dahin besteht immer noch eine gewisse Gefahr, daß das Grab ausgeraubt wird.«
Vandergelt ließ die Gabel fallen. »Was, zum Teufel, meinen Sie damit?«
»Zügeln Sie Ihre Ausdrucksweise«, tadelte Emerson. »Es sind Damen anwesend. Sie haben doch nicht etwa meinen Boten vergessen, oder? Morgen wird er eintreffen. Dann werde ich die Wahrheit erfahren. Die Nachricht wird aus einem einfachen >Ja< oder >Nein< bestehen. Und wenn sie >ja< lautet … Wer würde vermuten, daß das Schicksal eines Menschen von so einem kleinen Wörtchen abhängt?«
»Du übertreibst«, zischte ich aus dem Mundwinkel. Emerson warf mir einen finsteren Blick zu, aber er hatte den Hinweis verstanden.
»Sind alle fertig?« fragte er. »Gut. Gehen wir zu Bett. Es tut mir leid, wenn ich Sie hetze, aber ich will zurück ins Tal.«
»Dann möchten Sie sich also jetzt entschuldigen?« sagte Lady Baskerville, und ihr war anzusehen, was sie von diesem unhöflichen Benehmen hielt.
»Nein, nein. Ich will meinen Kaffee. Der wird mir helfen, wachzubleiben.«
Als wir hinausgingen, schloß Mary sich mir an. »Ich verstehe es nicht, Mrs. Emerson. Die Geschichte, die Karl erzählt hat, war so merkwürdig. Wie kann sie etwas mit dem Tod meiner Mutter zu tun haben?«
»Vielleicht besteht gar kein Zusammenhang«, antwortete ich tröstend. »Wir tappen immer noch im dunkeln, Mary; wir können nicht sehen, was sich dahinter verbirgt, geschweige denn wissen, ob es sich um Wegweiser handelt, die uns bei unserer Suche die Richtung anzeigen.«
»Wie literarisch gestimmt wir doch alle heute abend sind«, bemerkte der allgegenwärtige Mr. O’Connell lächelnd. Es war sein dienstliches, trollähnliches Grinsen, doch mir schien es, daß in seinen Augen etwas Ernsteres, Unheilschwangeres aufglomm.
Mit einem trotzigen Blick auf mich nahm Lady Baskerville den Platz hinter dem Kaffeetablett ein. Ich lächelte geduldig. Wenn es der Dame gefiel, diese bedeutungslose Handlung zum Schauplatz eines Machtkampfes zwischen uns zu machen, sollte sie doch. In wenigen Tagen würde ich auch nach außen hin die Hausherrin sein, wie es eigentlich in Wirklichkeit bereits der Fall war.
An diesem Abend waren wir alle besonders höflich. Während ich dem vornehm geflüsterten »Schwarz oder mit Milch?« und »Zwei Stück Zucker, bitte« lauschte, fühlte ich mich, als
Weitere Kostenlose Bücher