Amelia Peabody 02: Der Fluch des Pharaonengrabes
durch einen rosafarbenen Seidenbaldachin, den vier ihrer männlichen Verwandten tragen, vor neugierigen Blicken geschützt. Das arme Mädchen. Sie geht wie ein Stück Ware von einem Eigentümer an den nächsten über, doch in diesem Augenblick wird selbst meine Entrüstung über die unsäglichste aller islamischen Sitten von meiner Freude besänftigt, hier zu sein. Ich bin von Grund auf zufrieden. In wenigen Augenblicken wird sich Emerson zu mir gesellen, und dann werden wir uns ins Museum begeben.
Nur ein Schatten fällt auf meine Zufriedenheit. Ist es die Sorge um meinen kleinen Sohn, der sich so fern der liebenden Obhut seiner Mutter befindet? Nein, werter Leser, weit gefehlt. Der Gedanke, daß mich von Ramses einige Tausend Kilometer trennen, ruft in mir ein Gefühl des tiefen Friedens hervor, wie ich es schon seit Jahren nicht mehr erlebt habe. Ich frage mich, warum es mir nicht schon früher eingefallen ist, Ferien von Ramses zu machen.
Ich weiß, er wird von seiner fürsorglichen Tante die gleiche zärtliche und aufopferungsvolle Pflege bekommen, mit der er auch zu Hause rechnen kann. Walter, der sehr amüsiert Ramses’ erblühendes Interesse an der Archäologie beobachtet hat, hat versprochen, ihm die Hieroglyphen beizubringen. Ich verspürte wegen Evelyns Kindern, die nach Emersons Worten einen »langen und harten Winter« vor sich hatten, einen kleinen Anflug von schlechtem Gewissen. Doch schließlich würde diese Erfahrung ihren Charakter wahrscheinlich im positiven Sinne formen.
Selbstverständlich hatte es sich als unmöglich erwiesen, so schnell abzureisen, wie Emerson optimistischerweise geplant hatte. Zuerst einmal standen die Feiertage vor der Tür, und es wäre nicht angegangen, Ramses so kurz vor Weihnachten zu verlassen. Also verbrachten wir das Fest bei Walter und Evelyn, und als wir am zweiten Feiertag abreisten, wurde selbst Emersons Trauer angesichts des Abschieds von seinem Sohn durch eine Woche ausgelassenen Feierns und Völlerei gemildert. Alle Kinder, abgesehen von Ramses, hatten sich mindestens einmal übergeben müssen. Ramses hatte den Christbaum in Brand gesetzt und das Kinderfräulein mit seiner Sammlung von Stichen, die Mumien (manche davon im fortgeschrittenen Verfallsstadium) darstellten, zu Tode erschreckt, und … Aber es würde ein ganzes Buch in Anspruch nehmen, Ramses’ gesamtes Treiben zu schildern. Am Morgen unserer Abreise bot sein Kindergesicht einen schrecklichen Anblick, da ihn Evelyns Kätzchen gehörig zerkratzt hatte; er hatte dem Tierchen zeigen wollen, wie man Plumpudding mit der Pfote umrührt. Als die Küche von den entrüsteten Schreien der Köchin und dem Fauchen der Katze widerhallte, hatte Ramses erklärt, da jedes Mitglied des Haushalts das Recht habe, den Pudding umzurühren, was Glück im kommenden Jahr bedeute, müßten sich auch die Haustiere fairerweise an dieser Zeremonie beteiligen dürfen.
Ist es angesichts solcher Erinnerungen also weiter verwunderlich, daß ich voll Zufriedenheit einigen Monaten ohne Ramses’ Gesellschaft entgegensah?
Wir hatten uns für die schnellste Reiseroute entschieden: mit dem Zug nach Marseille, per Dampfer nach Alexandria, und dann mit dem Zug nach Kairo. Bei unserer Ankunft war mein Mann zehn Jahre jünger geworden, und als wir uns durch das Gewimmel auf dem Bahnhof in Kairo kämpften, hatte er sich wieder in den alten Emerson verwandelt; er brüllte Anweisungen und Beschimpfungen in fließendem Arabisch. Seine Stimme dröhnte derart, daß sich die Menschen umwandten und uns mit weit aufgerissenen Augen anstarrten. Bald waren wir von alten Bekannten umringt, die uns lächelnd begrüßten. Wie lebendige Kohlköpfe hüpften weiße und grüne Turbane auf und nieder. Den rührendsten Willkommensgruß erwies uns ein alter Bettler, der sich zu Boden warf, Emersons schmutzigen Stiefel umklammerte und ausrief: »Oh Vater der Flüche, du bist zurückgekehrt! Jetzt kann ich in Frieden sterben!«
Emerson unterdrückte ein Lächeln. Sanft befreite er seinen Fuß und legte eine Handvoll Münzen auf den Turban des alten Mannes.
Ich hatte telegraphisch Zimmer im Shepheard bestellt, sobald wir Lady Baskervilles Angebot angenommen hatten, da das Hotel während des Winters immer voll besetzt ist. Das weitläufige alte Gebäude, in dem wir so oft übernachtet hatten, war einem modernen Prachtbau gewichen. Das beeindruckende Bauwerk war in italienischem Stil gehalten und verfügte sogar über eine eigene Elektrizitätsanlage – das
Weitere Kostenlose Bücher