Amelia Peabody 02: Der Fluch des Pharaonengrabes
wiederholten Dankbarkeitsbezeugungen, wie galant er doch einer armen, einsamen Witwe zur Hilfe geeilt sei – auf die Archäologie gelenkt. Völlig ungerührt von ihren Andeutungen fuhr Emerson fort, seine Pläne zur Aushebung des Grabes zu erläutern.
Glauben Sie nicht, werter Leser, daß ich das, was inzwischen mein hauptsächliches Anliegen geworden war, aus den Augen verloren hätte. Den Mörder Lord Baskervilles zu entdecken war nicht länger eine Angelegenheit von rein abstraktem Interesse. Möglicherweise war Mr. O’Connell für Emersons Unfall in Kairo verantwortlich (obwohl ich das bezweifelte); auch konnte der finstere Habib den Felsbrocken, der Emerson an eben diesem Tag so knapp verfehlt hatte, ins Rollen gebracht haben. Möglicherweise, sage ich, denn ich war mir sicher, daß zwei Unfälle innerhalb eines so kurzen Zeitraums eine tiefere und unheimlichere Bedeutung hatten. Derjenige, der Baskerville ermordet hatte, hatte es nun auf das Leben meines Mannes abgesehen, und je schneller ich seine Identität ermittelte, desto früher würde Emerson in Sicherheit sein.
Natürlich konnte es sich auch um eine Frau handeln. Um ehrlich zu sein, hatte ich, als ich um den Tisch herumblickte, noch nie eine Ansammlung von so verdächtig wirkenden Menschen gesehen.
Diese Lady Baskerville war fähig, einen Mord zu begehen, das bezweifelte ich keinesfalls. Allerdings wußte ich damals noch nicht, warum sie ihren Mann hätte umbringen sollen. Doch ich war überzeugt, daß eine kurze Untersuchung ein Motiv zutage fördern und auch erklären würde, wie sie die beiden Angriffe auf Emerson zustande gebracht hatte.
Was Mr. Vandergelt betraf, müßte ich ihn, so liebenswürdig er auch erscheinen mochte, als Verdächtigen in Erwägung ziehen. Wir alle wissen, wie skrupellos diese amerikanischen Millionäre ihre Rivalen zerstören, während sie den Gipfel der Macht erklimmen. Vandergelt hatte es auf Lord Baskervilles Grab abgesehen. Einige mögen das als unzureichendes Mordmotiv betrachten, aber ich wußte zu gut, was im Kopf eines Archäologen vorgeht, um diesen Gesichtspunkt zu vernachlässigen.
Als ob sie meinen fragenden Blick bemerkt hätte, sah Madame Berengeria von dem Lammbraten auf, den sie sich gerade in den Mund stopfte. Wieder leuchtete in ihren blassen Augen der Haß auf. Überflüssig, sich zu fragen, ob sie in der Lage war, einen Mord zu begehen! Ganz sicherlich war sie verrückt, und Verrückte sind unberechenbar. Vielleicht hatte sie auch Lord Baskerville als lang verlorenen Liebsten begrüßt und ihn umgebracht, als er sie, wie es jeder normale Mann tun mußte, zurückwies.
Madame Berengeria fuhr fort, ihr Essen hinunterzuschlingen, und ich wandte meine Aufmerksamkeit ihrer Tochter zu, die schweigend Mr. O’Connells leisen Bemerkungen lauschte. Sie lächelte zwar, aber es war ein trauriges Lächeln; im grellen Licht des Speisesaals waren der schäbige Zustand ihres Kleides und die Müdigkeitsfalten in ihrem jungen Gesicht deutlich sichtbar. Sofort strich ich sie von meiner Liste der Verdächtigen. Daß sie ihre Mutter noch nicht umgebracht hatte, bewies, daß sie zu gewaltsamen Handlungen nicht fähig war.
Mr. O’Connell? Zweifelsohne gehörte er auf meine Liste. Er verstand sich gut mit allen drei Damen, was einen hinterlistigen und scheinheiligen Charakter verriet. Marys Zuneigung zu gewinnen war nicht schwer; das Mädchen würde auf jeden ansprechen, der sich ihr gegenüber freundlich und liebevoll zeigte. Zu seiner Schande hatte O’Connell sich aus reiner Verlogenheit und Doppelzüngigkeit (denn niemand konnte diese Frau ehrlich bewundern oder auch nur ertragen) mit ihrer Mutter eingelassen. Diese Hinterlistigkeit hatte ihn wahrscheinlich auch bei Lady Baskerville beliebt gemacht. Er hatte über sie in den ekelerregendsten sentimentalen Worten geschrieben, und sie war eitel genug, sich von solch hohlen Schmeicheleien einwickeln zu lassen. Kurz und gut, er war kein Mensch, dem man vertrauen konnte.
Selbstverständlich war die Liste der Verdächtigen mit den Anwesenden noch nicht erschöpft. Der verschwundene Armadale stand ganz oben, und auch Karl von Bork und Milverton konnten Motive haben, von denen ich noch nichts wußte. Ich bezweifelte nicht, daß die Antwort leicht zu finden sein würde, wenn ich mich ernsthaft mit dem Problem befaßte; und, um die Wahrheit zu sagen, war mir die Aussicht auf ein wenig Detektivarbeit gar nicht unangenehm.
Mit solchen unterhaltsamen Spekulationen verging die
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