Amelia Peabody 03: Der Mumienschrein
so hart zu dem Jungen.«
»Ich kann meine Gefühle eben nicht gut zeigen, Emerson.«
»Da habe ich allerdings ganz andere Erfahrungen gemacht«, sagte Emerson und sah mich bedeutungsvoll an.
»Das ist etwas völlig anderes. Natürlich mag ich Ramses gern, aber ich will keinesfalls eine Glucke sein, die blind ist für die Charakterzüge ihrer Kinder.«
In diesem Augenblick trat John ins Zimmer. »Madam«, rief er aufgeregt, »im Hof steht ein großer Mumiensarg. Was sollen wir damit unternehmen?«
»Das wird der Sarg der Baronin sein«, sagte ich. »Wahrscheinlich haben de Morgans Männer ihn einfach im Hof abgestellt und sind wieder verschwunden. Sehr seltsam! Was sollen wir mit ihm machen, Emerson?«
»Schmeiß dieses verdammte Ding doch weg!« knurrte Emerson und widmete sich wieder seinen Schreibarbeiten.
»Wir werden ihn zu den anderen stellen«, entschied ich. »Kommen Sie, John. Ich werde den Lagerraum aufschließen.«
Die glänzende Oberfläche des Sarges schimmerte im Licht der Sterne. John packte das Monstrum und hob es hoch, als ob es nichts wiegen würde. Irgendwie fühlte ich mich an eine Zirkusnummer erinnert.
Im Lagerraum war es ziemlich eng, so daß wir erst einige Särge umräumen mußten, um Platz für den neuen zu schaffen. Wahrscheinlich wäre es praktischer gewesen, ihn einfach in einen anderen Raum zu bringen, aber ich liebe es nun einmal, Dinge gleicher Art auch zusammen zu lagern. Nachdem das Ding endlich verstaut war, fragte John: »Soll ich jetzt zu Bruder Hamid gehen, Madam?«
Ich gab ihm die Verkleidung, die ich besorgt hatte, aber selbst Abdullahs längstes Gewand reichte John nur bis zu den Waden. Die Stiefel darunter sahen ein wenig seltsam aus, doch als John anbot, sie auszuziehen, lehnte ich ab. Er war es nicht gewöhnt, ohne Schuhe zu laufen, und ein kleiner Schmerzensschrei hätte unter Umständen im entscheidenden Moment alles verdorben. Zum Schluß wickelte ich ihm noch den Turban um den Kopf, und dann trat ich einige Schritte zurück, um mein Werk zu begutachten.
Es war nicht sehr überzeugend ausgefallen, aber wir hatten unser Bestes gegeben. Ich schickte John los und kehrte zu Emerson zurück. Er wollte natürlich wissen, weshalb John so früh zu Bett gegangen wäre, doch ich konnte ihn ohne größere Schwierigkeiten vom Thema ablenken.
Ich hatte das Gefühl, noch nicht lange geschlafen zu haben – was ja auch den Tatsachen entsprach –, als mich plötzlich fürchterlich lautes Klopfen weckte. Glücklicherweise wurden diesmal meine Reaktionen nicht von einem Moskitonetz behindert, weil im Winter in der Wüste keine Gefahr besteht. Ich packte entschlossen meinen Sonnenschirm, und als ich wieder meinen Namen rufen hörte, riß ich die Tür auf. Die erste Ahnung der Dämmerung färbte den Himmel hinter dem Hof, so daß ich an den äußeren Umrissen erkennen konnte, wer vor mir stand. Es war unverkennbar John, aber irgendwie sah er anders aus als gewöhnlich, und es dauerte geraume Zeit, bis ich begriffen hatte, daß er einen kleineren Körper in den Armen hielt.
»Was zum Teufel haben Sie da, John?« fragte ich. Offenbar war meine Überraschung so groß, daß ich sogar meine gute Erziehung vergaß.
»Schwester Charity, Madam«, antwortete John.
»Würden Sie ihn bitten, mich herunterzulassen?« bat das Mädchen mit ersterbender Stimme. »Ich bin nicht verletzt, aber Bruder John besteht darauf …«
Hinter mir erwachte Emerson unter lautem Stöhnen und Fluchen. »Niemand rührt sich von der Stelle«, ordnete ich an. »Die Situation ist so verworren, daß ich mich lieber bei Licht damit befassen möchte.« Ein weiterer Fluch aus der Richtung unseres Ehebettes erinnerte mich an etwas, das ich fast übersehen hätte. »Bitte, Emerson, bleibe im Bett, es ist eine Dame anwesend.«
»Verflucht! Verflucht, Amelia …«, rief Emerson.
»Beunruhige dich nicht, mein Liebling, ich habe die Situation völlig in der Hand!« sagte ich. »Einen Augenblick noch … gleich brennt die Lampe … So, nun wollen wir weitersehen!«
Mit einem kurzen Blick überzeugte ich mich davon, daß Emerson sich bis zum Hals in seine Decke gewickelt hatte. Erst dann wandte ich mich den anderen zu. John sah sehr mitgenommen aus. Sein Turban hatte sich gelöst, und das Gewand, das einmal weiß gewesen war, bestand fast nur noch aus Fetzen, auf denen Flecken prangten, die ich im ersten Augenblick für verkrustete Blutflecken hielt. Bei näherem Hinsehen entpuppten sie sich allerdings als Ruß-
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