Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
oder steif. »Ich hatte nicht erwartet, daß Sie mir gleich bei meinem ersten Besuch vertrauen würden.«
»Ihrem ersten –«
»Bitte vergessen Sie nicht, daß ich bereit bin, Ihnen in jeder nur erdenklichen Form behilflich zu sein. Ihre Lebensführung schadet Ihnen nur. Sie sollten mit dem Gedanken spielen, aufs Land zu ziehen. Es gibt nichts Beruhigenderes für eine verwundete Seele als die Einsamkeit und den Zauber der Natur.«
Ayesha krümmte sich und verbarg ihr Gesicht in den Kissen. Ich wertete das als Zeichen, daß unsere Unterhaltung beendet war, und schritt zur Tür. »Denken Sie daran, was ich Ihnen gesagt habe. Sie können mich jederzeit rufen.«
»Sitt Hakim.« Sie rührte sich nicht; ihre Stimme klang gedämpft und stockend.
»Ja?«
»Sie werden meinen Boten erkennen, wenn er zu Ihnen kommt. Aber ich kann nicht versprechen, daß er kommt.«
»Sehr gut. Ich hoffe, daß er kommen wird.«
»Sitt Hakim?«
»Ja?«
»Gestern nacht habe ich Effendi Emerson zum ersten Mal nach vielen Jahren wiedergesehen. Wir lernten uns in Ägypten kennen. Nicht in England. Hier hat er mich nie aufgesucht.«
»Oh, tatsächlich? Nun, ich vermute, das wird sich bald ändern.«
Diesmal rief sie mich nicht zurück.
Nachdem mir das Dienstmädchen meinen Umhang ausgehändigt hatte, überquerte ich die Park Lane und setzte mich auf eine Bank im Park. Von dort aus konnte ich das Haus beobachten, das ich soeben verlassen hatte. Würde Emerson kommen? Ich war mir nicht sicher. Meine zynische Schlußbemerkung entstammte meiner Verärgerung und dem Wunsch nach einer intelligenten Retourkutsche (selbst ich leide gelegentlich unter solchen Charakterschwächen, doch gemessen an der provokativen Situation, glaubte ich, mich insgesamt tapfer geschlagen zu haben).
Ich war mir sicher, daß es sich bei der Person, die das Scotland Yard betreten hatte, um Emerson gehandelt hatte. Er wußte von meinem Plan und hatte vermutlich abgewartet, bis ich das Kommissariat wieder verließ. Hätte er noch etwas länger gewartet, hätte ich ihn nicht einmal bemerkt, aber das paßte nicht zu Emerson; Ungeduld war seine größte Schwäche.
Wie du mir, so ich dir, Professor Emerson, dachte ich im stillen. Auch ich würde abwarten und beobachten, ob Emerson die gleiche Spur wie ich verfolgte. Aber vielleicht nicht aus denselben Motiven …
Ich hatte noch nicht lange dort gesessen, als eine Droschke vorfuhr und Emerson heraussprang. Sobald er das Haus betreten hatte, griff ich zu einer Vorsichtsmaßnahme und hielt eine weitere Droschke an. Ich kletterte hinein und bat den Kutscher zu warten. Emerson hielt sich keine fünf Minuten lang in dem Haus auf. Noch überstürzter, als er es betreten hatte, stürmte er wieder hinaus und blieb mißtrauisch um sich blickend auf dem Gehsteig stehen. Offensichtlich hatte ihm Ayesha von meinem Besuch erzählt, und er befürchtete, daß ich mich irgendwo draußen verbarg.
Ich befahl dem Kutscher loszufahren. Aus dem kleinen, schmutzigen Fenster spähend, beobachtete ich, wie Emerson die Straße überquerte und durch den Park schlenderte. Dort verwickelte er sich in eine heftige Auseinandersetzung mit einer Dame von ähnlicher Größe und Statur wie ich, und ich sah noch, wie er versuchte, ihr die altmodische, schiffchenförmige Haube herunterzureißen, doch dann bog meine Droschke in die Upper Brook Street ein.
Es ist mir nicht möglich, die ganze Bandbreite der Gefühle zu schildern, die ich im Anschluß an meine Unterredung mit Ayesha empfand (insbesondere auf den Seiten eines Tagesbuchs, das vielleicht irgendwann veröffentlicht wird, natürlich erst nach einem umfassenden Lektorat). Mein Gehirn hatte sich in einen brodelnden Hexenkessel der Spekulation verwandelt.
Falls Ayesha die Wahrheit gesagt hatte, gab es nichts, was ich Emerson hätte vorwerfen können. Es wäre absolut unsinnig gewesen, ihn für etwas zu belangen, was er vor jenem unvergeßlichen Augenblick gesagt, getan, gedacht oder empfunden hatte, als er sich mir mit Leib und Seele, Herz und Verstand offenbarte.
Aber hatte sie die Wahrheit gesagt? Als unglückliche, ruinierte Schönheit hatte sie allen Grund zu lügen, um mich in Sicherheit zu wiegen. Ich fragte mich, ob sie die gleiche widerwillige Sympathie für mich empfand, die ich ihr entgegenbrachte. Einmal abgesehen von Emerson, hatten wir etwas Gemeinsames (und ich gebe offen zu, daß ich emotional überreagiert hatte, aber dieses Thema trifft leider meinen empfindlichsten Nerv). Sie
Weitere Kostenlose Bücher