Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
Abendessen umzukleiden. Meine Ehrlichkeit zwingt mich zu dem Eingeständnis, daß ich diese Entscheidung traf, um Emerson zu ärgern, dem das Umziehen zum Essen verhaßt ist. Da ich den legeren Stil gewohnt war, den wir zu Hause pflegten, vergaß ich ständig, daß in den meisten Häusern der Oberschicht strikte Regeln befolgt wurden, die, so denke ich gelegentlich, eher den Annehmlichkeiten des Personals als denen des Hausherrn dienen. Als ich die Tür zu meinem Zimmer öffnete, überraschte ich eines der Mädchen, das vor dem Kamin hockte.
Mit einem Aufschrei der Verblüffung duckte sie sich. Bevor ich sie beruhigen konnte, stürmte Mrs. Watson ins Zimmer. Mrs. Watson wirkte verärgert. Ihre Verärgerung galt mir, weil ich verfrüht nach oben gekommen war, doch das durfte sie natürlich nicht zugeben, also schalt sie das Mädchen.
»Du hättest das Feuer vor Mrs. Emersons Eintreffen angezündet haben müssen. Lauf jetzt nach unten, und hol das heiße Wasser.«
Das Mädchen huschte hinaus. »Es besteht keine Eile, Mrs. Watson«, bemerkte ich. »Ich bin zu früh. Hat der Professor gesagt, wann er zurück sein wird?«
»Nein, Madam, aber ich bin sicher, er wird in Kürze eintreffen, da er mir immer sehr gewissenhaft mitteilt, wann er sich vermutlich zum Essen verspäten wird. Sollen wir auf ihn warten und dann erst das warme Wasser hochbringen?«
Wie viele der modernen »Annehmlichkeiten« war das Gerät, das zur Heißwasserproduktion installiert worden war, so häufig defekt, daß Evelyn auf die zuverlässige, altmodische Methode zurückgegriffen hatte. Ich teilte Mrs. Watson mit, daß ich nicht warten wolle. Dann setzte ich mich und legte meine Füße auf den Kaminsims. Es hatte angefangen zu regnen, und der Abend war kühl.
Ich war entschlossen, meinen Besuch bei Ayesha nicht zu erwähnen und auch keinerlei Verhaltensänderung an den Tag zu legen, die darauf hätte hinweisen können. Emerson wußte, daß ich bei ihr gewesen war. Ich wollte es ihm überlassen, das Thema anzuschneiden.
Falls er ein reines Gewissen hatte, würde er das Thema ansprechen. Schließlich – so redete ich mir ein – schuldete er mir keinerlei Rechenschaft für seinen Lebenswandel vor unserer ersten Begegnung. Ich wußte, daß er mir seitdem nicht ein einziges Mal untreu gewesen war; ich wußte es, weil ich ihm absolut vertraute und weil sich ihm außerdem kaum eine Gelegenheit geboten hatte. Zumindest nicht, wenn wir uns in Ägypten aufhielten. Zumindest …
Allerdings eröffnete sich die Gelegenheit, wenn er und Abdullah unter dem Vorwand loszogen, das Dorf unseres Vormannes in der Umgebung von Kairo besuchen zu wollen. Abdullah hätte keine Sekunde lang gezögert, für den Mann zu lügen, den er mehr als jeden anderen bewunderte.
Ayesha hatte behauptet, Emerson habe sie in England nie aufgesucht. Aber sie hatte nicht gesagt, wann sie nach England gekommen war, und sie hatte mir auch nicht den Eindruck einer Frau vermittelt, die vor einer Lüge zurückschreckte. In den Jahren vor unseren Exkavationen, die wir auf unserem Anwesen in Kent verbracht hatten, war Emerson ständig nach London gereist, um sich dort einen oder auch mehrere Tage aufzuhalten. Er arbeitete als Dozent an der Universität und in der Bibliothek des Museums. Beide Tätigkeiten füllten keinen ganzen Tag aus.
Von einem seltsam knirschenden Geräusch aus meinen abwegigen Gedanken aufgeschreckt, blickte ich mich suchend im Zimmer um, bis ich feststellte, daß es von mir stammte – genaugenommen von meinen Zähnen. Ich entspannte meine Kiefermuskulatur und erinnerte mich der von mir hervorragend durchdachten Taktik. Ich würde meinen geliebten und geschätzten Gatten nicht mit unterschwelligen Andeutungen traktieren, die ungerechtfertigtem Mißtrauen entsprangen. Nein. Ich würde warten, bis er das Thema Ayesha anschnitt. Natürlich würde er darauf zu sprechen kommen. Alles andere wäre unnatürlich gewesen. Dank Emersons überstürzten morgendlichen Aufbruch und seiner langen Abwesenheit hatten wir keine Gelegenheit gefunden, das Abenteuer vom Vorabend zu besprechen und – wie es unsere liebgewonnene Angewohnheit geworden war – über verschiedene Theorien und Lösungsansätze zu spekulieren. Unter diesen Voraussetzungen wäre es überaus merkwürdig, wenn der Name Ayesha nicht fiel.
Emerson gibt sich der Illusion hin, daß er auf leisen Sohlen gehen kann. Dabei erzeugt sein Schleichen ebensoviel Lärm wie sein normales Gehen, deshalb hatte ich sein
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