Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
eine Maske mit menschlichen Gesichtszügen getragen. Die anderen, Begleiter und Gehilfen, trugen die Tierköpfe.
Nun, ich würde bald herausfinden, ob ich die richtige Wahl getroffen hatte. Ich wählte die Löwenmaske – Sekhmet, die Göttin der Liebe und des Krieges. Sie schien mir angemessen.
Im Gang war es totenstill. Steifen, ehrwürdigen Schrittes durchquerte ich ihn. Ich konnte von Glück sagen, daß mich niemand beobachtete, da mir einmal mein Schirm zwischen die Beine geriet und ich fast gestürzt wäre. Mein Gesichtsfeld war aufgrund der Augenschlitze in der Maske eingegrenzt, so daß ich nur starr geradeaus bücken konnte, und ich war mir der unangenehm über meine Wirbelsäule jagenden Gänsehaut überaus bewußt.
Ich öffnete den Vorhang und trat hindurch. Vor mir befand sich eine geschnitzte und vergoldete Tür. Die Schnitzereien waren äußerst ungewöhnlich.
Der Türknauf gab unter dem Druck meiner Hand nach; geräuschlos schwang die Tür auf. Schlagartig blieb ich stehen.
Dort vor mir spielte sich exakt die Szene aus meinem Traum ab, und ich stand genauso auf einer Brüstung, die einen riesigen Raum überblickte.
Natürlich war es nicht exakt dasselbe. Die Tür war hinter mir ins Schloß gefallen, und niemand schien mein Eintreten bemerkt zu haben, so daß mir einige Momente blieben, um mir einen Überblick zu verschaffen.
Der Raum verband zwei Ebenen des ursprünglichen Gebäudes miteinander; durch Entfernen der Zwischendecke und mit Hilfe einer stützenden Pfeilerkonstruktion hatte man den gesamten Raum zwischen Dach und Kellerboden geöffnet. Die Wände waren nicht mit Marmor, sondern mit Wandteppichen und –gemälden bedeckt. Die Statue war zwar keine fünf Meter hoch, aber dennoch lebensgroß, und die abgebildete Gottheit war nicht der ehrwürdige Osiris. Er trägt eine ganze Reihe von Namen (Min lautet einer von ihnen), und er ist aufgrund eines hervorstechenden Charakteristikums leicht erkennbar.
Die Beleuchtung war diffus und nicht unbedingt beeindruckend – moderne Öllampen, deren Dochte viel zu lang waren, und flackernde Feuer in offenen Holzkohlebecken. Sechs Männer waren anwesend; alle trugen lange Gewänder, einige waren maskiert, andere hatten den Kopfschmuck abgenommen und rauchten. Die vorherrschende Stimmung war alles andere als feierlich. Einer der Burschen lümmelte sich auf dem Altar herum, ein anderer setzte eine Flasche an die Lippen. Irgendjemand deutete auf die Statue und machte einen Scherz, den ich mich wiederzugeben weigere; hämisches Gelächter war die Folge.
Während ich den Raum taxierte, stellte ich mit aufkeimendem Entsetzen fest, daß mich einer der maskierten Männer bemerkt hatte. Seine Maske, die den Gott der Weisheit, den ibisköpfigen Thot, symbolisierte, blickte geradewegs zu mir. Er machte einen Schritt in Richtung der Treppe, die zu der Balkonbrüstung führte.
Mir blieb nichts anderes übrig, als die Flucht nach vorn anzutreten. Falls er mißtrauisch wurde und Alarm schlug, würde ich ihm niemals entkommen können. Noch entscheidender war, daß ich bislang nicht in Erfahrung gebracht hatte, weshalb ich grundsätzlich gekommen war. Falls das Mädchen in diesem grauenvollen Gemäuer gefangengehalten wurde, konnte ich sie nicht im Stich lassen.
Mir war nicht klar gewesen, wie schwierig es werden würde, mit dem an meinem Gürtel befestigten Schirm eine Treppe zu überwinden. Nach einem beinahe fatalen Sturz schob ich ihn aus dem Weg wie ein Fechter seinen Degen und hoffte, daß mein seltsames Anhängsel niemandem auffiel.
Schließlich erreichte ich den Fuß der Treppe und seufzte erleichtert auf. Die Ibismaske hatte sich abgewandt, und niemand schien mich zu beachten. Mit dem Rücken in Richtung Wand glitt ich in die schützende Dunkelheit.
Unter solchen Bedingungen verliert man sein Zeitgefühl. Ich hatte keine Vorstellung, wie spät es sein könnte und wie lange ich bereits wartete, während ich versuchte, die abscheuliche Ausdrucksweise und die Scherze der Anwesenden zu ignorieren. Schließlich warf einer von ihnen seine Zigarette auf den Boden und trat sie aus.
»Los geht’s, Jungs«, meinte er fröhlich. »Wir wollen doch Seine reizende Lordschaft nicht enttäuschen.«
Masken wurden angelegt, Zigaretten in die Holzkohlebecken geworfen. Der auf dem Altar hingegossene Mann erhob sich und strich sein Gewand glatt.
Auch wenn ich nicht reinen Gewissens behaupten kann, daß ich mich wohl fühlte, so hatte sich doch die mentale Empfindung des
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