Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
eigentlich erforderlich, da die überaus gutherzige Evelyn ständig irgendwelchen gestrauchelten jungen Mädchen Zuflucht bot. Die Haushälterin, die allerdings weder jung noch gestrauchelt war, war ebenfalls ein Produkt ihrer Fürsorge; es handelte sich um eine entfernte Verwandte von Evelyns seit langem verstorbener Mutter, die einen Dorfgeistlichen geheiratet und nach dessen Tod völlig mittellos dagestanden hatte. Da Evelyn die Probleme dieser Frauenschicht – angesehener Frauen ohne Ausbildung, Beruf oder finanzielle Mittel – nur zu gut kannte, hatte sie ihr nicht nur eine Zuflucht, sondern auch eine sinnvolle Beschäftigung angeboten. Mrs. Watson hatte mit dankenswerter Entschlossenheit reagiert und sich zum dienstbaren Geist ihrer liebenswürdigen Hausherrin entwickelt. Für die von ihr ausgebildeten jungen Mädchen, von denen einige so entsetzliche Situationen durchlebt hatten, daß ich dem werten Leser Details besser erspare, war sie wie eine Mutter, und ein Großteil von ihnen schlug eine vorteilhafte berufliche Laufbahn ein oder heiratete.
In dem Bewußtsein, daß diese gute Frau alles bestens unter Kontrolle hatte, fühlte ich mich gewissermaßen der Übertreibung schuldig, als ich mich bei Emerson beklagte; doch was soll’s, bevor sich eine Tagesroutine einstellte, mußte noch eine ganze Reihe von Dingen geklärt werden. Deshalb setzte ich mich mit Mrs. Watson zum Gespräch zusammen.
Wir hatten keine eigenen Bediensteten mitgebracht. Rose war sozusagen meine Stellvertreterin und im Amarna House unverzichtbar. Wilkins bedeutete – um ganz ehrlich zu sein – mehr Schaden als Nutzen. Ich hatte mir überlegt, John mitzubringen, weil er an uns (und an Ramses’ Mumien) gewöhnt war, empfand es allerdings als unhöflich, ihn zu bitten, seine kleine Familie zu verlassen.
Mrs. Watson versicherte mir, daß es keinerlei Probleme gäbe. »Drei Mädchen haben uns zwar gerade verlassen, aber wo die herkamen, sind noch jede Menge.«
»Bedauerlicherweise«, seufzte ich.
»Ja.« Die Haushälterin schüttelte den Kopf. Sie bevorzugte die formelle Bekleidung ihrer Jugendzeit und trug immer eine Haube auf ihrem adrett frisierten weißen Haar. Diese Hauben hatten etwas ungewollt Frivoles; jede schien extravaganter als ihre Vorgängerin mit Bändern, Schleifen und Spitzen geschmückt. An diesem Tag erweckte es den Anschein, als habe sich ein riesiger Schwarm lavendelfarbener Schmetterlinge auf ihrem Haupt niedergelassen.
»Ich werde eine Annonce in der Post schalten«, erklärte ich.
»Wir suchen jemanden, der die Kinder betreut. Ein Kindermädchen für die kleine Violet; und für die Jungen einen – äh – etwas Robusteres.«
»Einen Hauslehrer?«
»Einen Aufpasser«, entgegnete ich. »Meinen Sie, daß einer der Hausdiener –«
»Das sind zwar brave Burschen«, erwiderte die Haushälterin skeptisch, »aber sie sind nicht sonderlich gebildet, und ihre Umgangsformen entsprechen sicherlich nicht unbedingt Ihren Vorstellungen.«
»Ramses’ Bildung bereitet mir weitaus weniger Kopfzerbrechen als die Tatsache, wie man ihn davon abhalten kann, sich – beziehungsweise seinen Cousin – umzubringen«, erklärte ich. »Sie vertragen sich nicht, Mrs. Watson. Ständig streiten und raufen sie miteinander.«
»So sind Jungen nun einmal«, erwiderte Mrs. Watson nachsichtig lächelnd.
»Hmhm.«
»Eines der Hausmädchen – Kitty oder Jane – könnte vorübergehend als Kindermädchen einspringen«, sinnierte Mrs. Watson. »Und Bob ist ein tatkräftiger junger Bursche –«
»Ich werde Ihnen die Sache überlassen, Mrs. Watson, da ich Ihrer Einschätzung voll und ganz vertraue.« Nachdem ich diese Entscheidung getroffen hatte, nahm ich meinen Hut und meinen Schirm und verließ das Haus.
Es war ein herrlicher Frühlingstag. Der rauhe Nordwestwind hatte das schmutziggraue Wolkenbild aufgelockert, so daß sich hin und wieder blauer Himmel zeigte. Ich verfiel in Laufschritt und beobachtete mißfällig und betrübt die mir begegnenden Damen; eng geschnürt und mit ihren hochhackigen Schuhen waren sie kaum in der Lage, sich vorwärts zu bewegen, geschweige denn vernünftig zu marschieren. Arme ignorante Opfer eines gesellschaftlichen Diktats – aber (so sagte ich mir) willige Opfer, genau wie die naiven indischen Frauen, die mit Freuden ihren bigamischen Ehemännern in den Tod folgten. Die Gesetzgebung hatte diese gräßliche Sitte zwar verboten, aber die Meinung im Volk hinsichtlich der Unterdrückung der Frauen war
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