Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
meines Sohnes.
Als ich durch die blauen Rauchwolken spähte, entdeckte ich einen feuerroten Haarschopf. Ein einziger Blick genügte. Ich rief seinen Namen.
»Mr. O’Connell!«
Jegliche Unterhaltung versiegte abrupt. Durch die Stille konnte man das Geräusch vorsichtig schlurfender Schritte vernehmen. »Ich höre Sie, Mr. O’Connell!« schrie ich. »Kommen Sie bitte sofort zu mir!«
Ein Mann an einem der an der Wandseite aufgestellten Schreibtische beugte sich seitwärts von seinem Stuhl und murmelte einer für mich nicht erkennbaren Person eine Bemerkung zu. Einen Augenblick später erhob sich O’Connell tollpatschig, und der Mann, hinter dessen Schreibtisch er sich verborgen hatte, meinte grinsend: »Hier ist er, Ma’am. Was hat er denn angestellt – ist er Ihnen etwa zu nahe getreten?«
»Wenn das ein Beispiel für journalistischen Humor sein soll, dann kann ich dem nicht viel abgewinnen«, erwiderte ich, während Kevin den Witzbold anfunkelte. »Kommen Sie, Mr. O’Connell. Seien Sie kein Feigling, ich will doch nur mit Ihnen reden.«
»Sagten Sie Feigling? Kein O’Connell, ob männlich oder weiblich, war jemals zu feige für eine Konfrontation!«
»Ja, gewiß. Also beeilen Sie sich.«
Kevin riß sein Jackett von der Stuhllehne, stülpte seine Kappe auf und trat auf mich zu. »Beeilung ist in der Tat angeraten«, knurrte er. »Zweifellos haben Sie soeben meinen Ruf ruiniert, Mrs. E.«
Sobald wir draußen waren, schnappte Kevin hörbar nach Luft. »Verzeihen Sie mir, Mrs. Emerson. Mit Bob habe ich später noch ein Hühnchen zu rupfen. Aber Sie müssen wirklich verstehen, daß Sie solche Orte nicht aufsuchen sollten.«
»Ich habe schon Schlimmeres gesehen«, erwiderte ich. »Und was ist mit Miss Minton? Arbeitet sie auch in einem so gräßlichen Büro?«
»Also wirklich, Sie glauben doch nicht etwa, daß eine so feine Dame mit gemeinen, einfachen Journalisten ein Büro teilt?«
»Ich glaube nicht, daß die gemeinen, einfachen Journalisten sie im gleichen Raum haben wollen«, erwiderte ich trocken. »Sie können nicht alle Attribute eines Gentlemans abgelegt haben; die Anwesenheit einer Dame wäre für sie unangenehm und vermutlich undenkbar. Und wo ist sie, wenn sie nicht in einem der Büros des Mirror arbeitet?«
»Sie wohnt bei einer verwitweten Dame auf der Godolphin Street«, entgegnete Kevin. »Schickt ihre kleinen Artikel per Kurier an das Blatt; die alte Herzoginwitwe hält sich zwar für eine Frauenrechtlerin, würde aber nicht zulassen, daß ihre ehrenwerte Enkelin Seite an Seite mit ungehobelten Kerlen arbeitet. Es war reiner Zufall, daß sich der Tod des Aufsehers zu einem solch aufsehenerregenden Fall entwickelte, da ihr Verleger sie lediglich mit der Story betraute, um sie außer Gefecht zu setzen, und er hoffte zweifellos, daß sie ihr kleines Hobby schon bald langweilen würde –«
»Unsinn. Sie war diejenige, die die Story zur Sensation hochstilisierte, das haben Sie selbst gesagt. Und sie schreibt hervorragend – journalistisch betrachtet.«
»Sie lernt schnell«, meinte Kevin neidisch. »Aber es sind ihre familiären Beziehungen und ihre Freundschaft zu diesem bebrillten Lackaffen im Museum –«
»Mißgunst, Mr. O’Connell! Reine Mißgunst und Ihre männliche Verblendung gegenüber den herausragenden Fähigkeiten der Frauen. Ich glaube, ich werde ihre Wohnung aufsuchen und schauen, ob sie dort ist. Wie war noch gleich die Adresse?«
»Wenn Sie wollen, begleite ich Sie. Es ist so ein herrlich sonniger Tag, viel zu schade, um im Büro zu hocken.«
Ich kannte seine wahren Beweggründe; aber ich muß mir selbst auf die Schulter klopfen, daß er ebensowenig von mir erfuhr wie ich – leider – von ihm. Er vergaß sich lediglich ein einziges Mal und nahm kein Blatt vor den Mund, als ich Lord St. John erwähnte.
»Dieser widerliche Nichtsnutz! Möge eine Hammelherde – äh – über das Grab seiner Großmutter trampeln!«
»Was haben Sie denn gegen Seine Lordschaft?« fragte ich.
Mr. O’Connell hatte einiges gegen Seine Lordschaft. »Wir erfahren Dinge, Mrs. Emerson, die wir niemals abdrucken können, nicht einmal in der Daily Yell. Dabei handelt es sich nicht so sehr um Neuigkeiten, die Damen und Kinder keineswegs lesen sollten, sondern um seine Gesetzesübertretungen. Wenn ich Ihnen alles erzählen würde, was ich über Seine Lordschaft weiß …«
»… würde mich das zweifellos weder schockieren noch überraschen«, erwiderte ich gleichmütig. »Und doch macht er
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