Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
Zusammenhang im Kopf herumspukten. Der Hohepriester Aminrehs unterbrach seinen Wortschwall mit einer Anschuldigung, gegen die sich Emerson entrüstet verwahrte. Seine arme Gattin sei hysterisch geworden, wie das bei Frauen nun einmal des öfteren vorkäme. Als er ihr zur Hilfe geeilt sei, habe der Gefangene ihn angegriffen und ihn und auch einige der Soldaten niedergeschlagen. Wie der Gefangene den Arm freibekommen habe, könne er sich nicht erklären. Vermutlich sei einer der Soldaten ein Verräter.
Dann schrien alle durcheinander. Als der Tumult erstarb, war Murteks ängstliche, hohe Stimme zu hören. »Die Fremden jetzt zu töten, wäre ein Fehler. Zuerst einmal gehören sie dem Gott; er wird zürnen, wenn ein anderer ihr Blut trinkt. Zweitens ist der Gefangene entflohen, während Ihr Euch hier gestritten habt. Falls die Fremden ihm geholfen haben, wird er ihnen dankbar sein und zurückkehren, um sie zu retten.«
»Was?« meinte Nastasen. »Das wäre … närrisch. Ich würde mich nie in eine solche Gefahr begeben.«
»Nein, mein Prinz. Aber Prinz Tarek würde es tun. Schon als Kind war er schwach und weichherzig und lauschte ständig Forths Geschichten.«
»Was für Euch ebenfalls gilt«, wandte Pesaker in scharfem Ton ein. »Auch Eure Treue ist zweifelhaft, Murtek. Was habt Ihr getan, um Tarek an der Flucht zu hindern?«
»Ich bin ein alter Mann«, erwiderte Murtek kläglich. »Ich helfe so gut ich kann – indem ich kluge Ratschläge gebe und die Weisheit sprechen lasse. Man darf dem Gott seine Opfer nicht streitig machen.«
»Zumindest das ist richtig«, antwortete der Hohepriester Aminrehs. »Und vielleicht habt Ihr auch sonst recht. Wir werden die Fremden also in die finstersten Zellen des Kerkers werfen …«
Murtek hüstelte tadelnd. »Ich dachte, Ihr wolltet Prinz Tarek eine Falle stellen. Dann müßt Ihr die Fremden in diesem Haus belassen, wo Tarek seine Kindheit verbracht hat und wo er alle geheimen Türen kennt. Zu Prinz Nastasens Kerker hat er keinen Zugang; er wird es nicht einmal versuchen.«
Schweigen entstand, während man diesen Vorschlag überdachte. Ich wußte, daß unser Schicksal am seidenen Faden hing, und beschloß, ihm wie eine wahre Britin stehend ins Auge zu blicken. »Emerson, laß mich runter«, murmelte ich.
»Sehr gut, sie wacht auf«, meinte Nastasen, als Emerson mich absetzte. »Sie wird ihr Schicksal aus dem Mund des Königs erfahren.«
»Noch bist du nicht König, du kleiner Gauner«, zischte Emerson. Laut sagte er auf meroitisch: »Komm, Frau, wir gehen zu Prinz Nastasens Haus.«
»Wartet!« Der Hohepriester Aminrehs hob die Hand. »Ihr seid bereit zu gehen? Ihr bittet nicht darum, hierbleiben zu dürfen?«
Emerson zuckte die Achseln. »Ein Ort ist so gut wie der andere. Wir sind bereit.«
»Das ist …« – Pesaker musterte uns aus zusammengekniffenen Augen, und seinem Gesichtsausdruck war die Bedeutung des Wortes klar zu entnehmen. »Sie gehen allzu bereitwillig. Ich habe einen besseren Einfall. Sie sollen bleiben. Wir nehmen das Kind mit.«
14. Kapitel
Im Inneren der Erde
Ich mußte mir auf die Lippe beißen, um einen enttäuschten Ausruf zu unterdrücken. Und dabei hatte bis jetzt alles wie am Schnürchen geklappt! In heller Aufregung sah ich mich um und zermarterte mir das Hirn nach einer zündenden Idee. Ramses war nirgends zu entdecken, aber ich rechnete nicht damit, daß er Gelegenheit zur Flucht haben würde. Schon bei einer oberflächlichen Suche würde man ihn hinter den Weinkrügen finden. Da sah ich ein bleiches Gesicht durch die Tür meines Schlafzimmers spähen. Hatte Reggie sich die ganze Zeit dort hinter den Vorhängen – und hinter Weiberröcken – versteckt? Zwar hatte ich leichte Skrupel, ihn den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen, doch hätte er sich wie ein Mann verhalten, wären diese weitaus größer gewesen.
»Reggie!« rief ich. »Retten Sie ihn! Retten Sie Ramses!« Er hatte keine Chance zu entkommen; einer der Soldaten sah ihn und zerrte ihn aus seinem Versteck. Vielleicht hoffte der Mann, bei seinem Gebieter besser angeschrieben zu sein, wenn er ihm wenigstens den Spatz in der Hand lieferte. Denn die Taube auf dem Dach war ihm, wie er berichten mußte, entwischt. »Sollen wir die Suche fortsetzen, edler Prinz?« fragte er.
»Ja«, fauchte Nastasen. »Ihr werdet weitersuchen und weder Speise noch Trank zu euch nehmen, bis ihr ihn gefunden habt. Anderenfalls …«
»Aber ich habe doch diesen hier ergriffen«, widersprach der
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