Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
vermutliche Opferung haben würde, konnten wir nicht ergründen, obwohl wir das Thema einige Zeit erörterten.
»Nun denn«, sagte Emerson schließlich. »Wir können nur abwarten. Wenigstens haben wir erfahren, daß es in diesem Spiel noch einen weiteren Teilnehmer gibt, der uns offenbar – zumindest für den Augenblick – wohlgesonnen ist.«
»Hmmm«, brummte ich.
»Was soll das heißen, Peabody?«
»Ich glaube, ich weiß, warum sie uns wohlgesonnen ist. Oder besser gesagt: dir.«
»Jetzt hör mal zu, Peabody …«
»Nein, jetzt hörst du mir zu und versucht, meine Logik nachzuvollziehen. Heneshems Hand bringt ihre Opfer mit einem Speer um. Meroitische Reliefs zeigen die Königin, wie sie Gefangene ebenfalls mit einem Speer ersticht. In ägyptischen Tempeln gibt es ähnliche Abbildungen, auf denen Pharaonen Gefangenen mit einem riesigen Knüppel den Schädel einschlagen. Aber der Gottkönig hat die Bluttat doch gewiß nicht selbst begangen. Wir wissen, daß Priester und Beamte viele der Aufgaben übernahmen, die nominell Sache des Herrschers waren. Auch in eben erwähntem Fall muß er einen Stellvertreter gehabt haben, der den Knüppel tatsächlich geschwungen hat. Also ist es um so wahrscheinlicher, daß eine Frau, ganz gleich, wie kräftig gebaut und blutdürstig sie auch ist, einen Stellvertreter ernennt – die Hand Ihrer Majestät –, der den Mord tatsächlich begeht.«
»Willst du damit andeuten, daß diese unbekannte Macht die Königin ist?« rief Emerson aus. »Die nette, dickliche Dame, der du dein Nähetui geschenkt hast, soll die Ermordung einer jungen Frau und ihres Kindes befohlen haben?«
»Auch Schurken können lächeln, Emerson. Eine Frau kann rundlich und häuslich sein und trotzdem nichts dabei finden, kleine Kinder zu ermorden. Und eine hübsche, mollige und jugendliche Witwe könnte an einem Mann Gefallen finden, dessen körperliche und moralische Vorzüge ihr gerade so eindrucksvoll demonstriert wurden.«
Emerson errötete. »Papperlapapp«, murmelte er.
»Hmmm«, brummte ich wieder.
Wegen Emersons Bescheidenheit hatte ich die Angelegenheit untertrieben. Jede Frau, die ihn an diesem Tag in Aktion gesehen hatte, mußte sich einfach auf der Stelle in ihn verlieben. Auch mich hatte die Szene tief ergriffen. Zwar war mir der Anblick von Emersons prachtvollem Körperbau vertraut, aber ihn im Kampf und bei der Verteidigung hilfloser Menschen zu sehen, hatte eine schier übermächtige Wirkung auf mich gehabt. Ich will nicht behaupten, daß diese ausschließlich auf ästhetischen Kriterien beruhte. Es hing noch mit einem weiteren Gefühl zusammen, das nun immer heftiger in mir aufwallte. Der Ausdruck »fiebrige Erregung« war vielleicht nicht ganz unpassend.
»Du zitterst ja, Liebling«, meinte Emerson fürsorglich. »Wahrscheinlich der Schock. Stütz dich auf mich.«
»Es ist nicht der Schock«, sagte ich.
»Aha«, entgegnete Emerson. Er versetzte dem Soldaten vor ihm einen Schubser. »Du kriechst wie eine Schnecke. Geh schneller.«
Mit sichtlicher Erleichterung übergab unsere Eskorte uns an der Haustür den wachhabenden Soldaten. Emerson, der meinen Arm fest an sich drückte, blieb nur lange genug stehen, um sich zu vergewissern, daß Reggie uns nicht folgte. Dann führte er mich in mein Schlafzimmer.
Der schreckliche Anblick, der sich uns dort bot, ließ uns jedoch unsere ursprünglichen Absichten vergessen. Ich hatte angenommen, Amenit würde ihren Pflichten nachgehen, so daß ich ihre Weiterbehandlung um einige Minuten würde verschieben können – oder auch länger, wenn es sich so ergab. Doch sie war immer noch da und kauerte auf einer Matte neben meinem Bett. Beim Anblick ihres Gesichtes stieß Emerson einen Schreckensschrei aus.
»Mein Gott, Peabody! Was hast du getan?«
Ihre Haut warf nicht nur Blasen und schälte sich, sondern war überdies grün – die ekelhaft fahle Farbe einer modernden Leiche. Zusammen mit ihrem violetten Haar war die Wirkung ganz besonders schauderhaft.
Ich muß zugeben, daß auch ich ein wenig erschrak. Die Paste, die ich ihr aufgetragen hatte, bestand nur aus aufgeweichter Seife. Offenbar hatte Amenit sie nicht vertragen. Außerdem hatte ich nicht erwartet, daß die Kräuter eine derart kräftige grüne Färbung verursachen würden.
Die finstere Miene, mit der sie mich anfunkelte, verbesserte ihr Aussehen nicht unbedingt. »Ihr habt meine Haut in Brand gesteckt, verdammte (hier folgten einige Ausdrücke, deren genaue Bedeutung mir zwar
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