Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
… wohin?« fragte Emerson leise.
Ramses schmale Schultern hoben sich wie immer zu einem hochmütigen arabischen Achselzucken, doch seine sonst so gelassene Miene zeigte deutliche Anzeichen von Verstörtheit. »Dahin.« Mit ausgestrecktem Arm wies er auf die westliche Wüste, die kahl in der sengenden Sonne lag.
Ein Schauder durchfuhr mich. »Ramses!« rief ich aus. »Ich bestehe darauf, daß du …«
»Nein, nein«, sagte Emerson. »Hier wird niemand hypnotisiert, Amelia. Ich pflichte Ramses darin bei, daß es mehr Schaden als Nutzen bringen kann. Allerdings zwingt es uns zum Handeln. Wir dürfen nicht zulassen, daß Ramses in die Wüste hinausläuft, und wir können ihn auch nicht jede Sekunde bewachen.« Sein Blick war auf den fernen Horizont gerichtet, wo der Sand mit dem Himmel verschmolz. Die Sehnsucht darin war für mich so offensichtlich, als ob er sie laut hinausgeschrien hätte. Die Verlockung des Unbekannten, einer neuen Entdeckung … sie rief diesen feinfühligen und klugen Menschen, wie die unbekannte Macht seinen Sohn rief. Wäre er allein gewesen, ohne sich um meine und um Ramses’ Sicherheit sorgen zu müssen, er wäre in das größte Abenteuer seines Lebens aufgebrochen. Ich schwieg respektvoll angesichts dieses edlen Verzichts.
»Man muß eine Expedition losschicken«, sagte Emerson schließlich. »Doch nicht unter meiner Ägide und auch nicht ohne sorgfältige Vorbereitung. So unangenehm es mir auch ist, werde ich mich an Slatin Pascha und die Militärbehörden in der Garnison wenden.«
»Sie werden dir nicht glauben, Emerson!« rief ich. »Die Hinweise sind zu verworren, als daß ihre beschränkten Gehirne sie begreifen könnten. Ach, mein Liebling, sie werden dich verspotten – stell dir Budges Gelächter vor …«
Emersons Lippen zuckten erbost. »Aber es muß sein, Peabody. Es gibt keinen anderen Weg. Wenn es nur darum ginge, unsere hypothetische untergegangene Kultur zu suchen, könnten wir noch ein Jahr warten, die Expedition richtig planen, Vorräte organisieren und genügend Leute einstellen. Doch vielleicht schweben Forth und seine Frau in Lebensgefahr. Jede Verzögerung könnte verhängnisvolle Folgen haben.«
»Aber … aber«, keuchte Reggie. »Herr Professor, das ist ja eine komplette Kehrtwendung! In England haben Sie mich ausgelacht und meinem Großvater die Bitte verweigert … Was hat Ihre Meinung geändert?«
»Das hier.« Emerson griff nach dem zerbrochenen Pfeil. »Für Sie mag er aussehen wie ein dünnes Schilfrohr, nicht wert, deswegen Menschenleben aufs Spiel zu setzen. Es ist sinnlos, Ihnen das erklären zu wollen. Sie würden es nicht begreifen.«
Unsere Blicke trafen sich. Es war einer jener erregenden Momente der wortlosen Verständigung, zu denen es zwischen meinem lieben Emerson und mir so oft kommt. »Aber du«, lautete die stumme Botschaft, »du verstehst mich, Peabody.« Und natürlich tat ich das.
»Ich verstehe«, meinte Reggie – obwohl das offensichtlich nicht der Fall war. »Nun denn … Sie haben recht, Herr Professor. Die Expedition muß stattfinden, und das ganz sicher nicht unter Ihrer Ägide – nicht, solange Sie Verantwortung für Frau und Kind tragen. Und auch nicht unter der Leitung der Militärbehörden. Es wird unmöglich sein, sie von der Notwendigkeit eines sofortigen Handelns zu überzeugen, falls sie überhaupt etwas tun.« Er erhob sich. Hoch aufgerichtet stand er da, sein Haar leuchtete in der Sonne. »Ich hoffe, Sie werden mir beratend zur Seite stehen und mir helfen, die notwendigen Kamele, Diener und Vorräte zu beschaffen.«
»Setzen Sie sich, Sie junger Esel«, knurrte Emerson. »Wie melodramatisch! Sie sind nicht in der Lage, eine solche Expedition zu leiten. Und Sie könnten sowieso nicht sofort aufbrechen.«
Ich unterstützte Emerson: »Mein Mann hat recht, Reggie. Ehe wir etwas tun, gibt es noch viel zu besprechen. Wie Emerson sagte, ist dieser abgebrochene Pfeil von größter Wichtigkeit. Wurde er im Kampf zwischen Ihnen und dem Angreifer letzte Nacht zerbrochen? Haben Sie vielleicht Kemit mit einem Mann ähnlicher Größe und ähnlicher Statur verwechselt? Ich kann nicht glauben, daß er es war, obwohl sein Verschwinden Zweifel …«
Ein schriller Schrei von Reggie unterbrach mich. Mit weit aufgerissenen Augen sprang er auf und versuchte, den Revolver aus dem Gürtel zu ziehen.
Ohne sich zu erheben, streckte Emerson seinen langen Arm aus. Seine Finger schlossen sich um Reggies Handgelenk. Reggie gab einen Fluch von
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