Amelia Peabody 11: Der Fluch des Falken
willst –?«
Emerson seufzte so inbrünstig wie ein geduldiger Lehrer, der sich mit einem besonders begriffsstutzigen Schüler konfrontiert sieht. »Ich hatte angenommen, das sei offensichtlich. Wenn du allerdings darauf bestehst. Wo ist nur Barsantis Plan?« Er durchwühlte seine Papiere. »Ah, da ist er ja.«
Nachdem wir uns alle um den Tisch versammelt hatten, begann Emerson seinen Vortrag und benutzte sein Pfeifenmundstück als Zeigestock. »Der Eingang zur Substruktur besteht aus dieser langen, steilen Treppe und dem Durchgang. Welchen Sinn sollte der Stollen haben, der vom Ende des ersten Durchgangs direkt an die Oberfläche führt?«
»Vielleicht wurde er von den Grabräubern angelegt?« schlug Selim vor.
Emerson schnaubte vor Wut. »Du weißt genau, wie die Schächte der Grabräuber aussehen, Selim. Dieser Stollen wurde von erfahrenen Handwerkern gegraben und nicht heimlich und in aller Eile von irgendwelchen Grabschändern. Sicher, es könnte sich um eine spätere bauliche Veränderung handeln. Jedenfalls möchte ich in Erfahrung bringen, was und ob sich etwas darin verbirgt. Beantwortet das deine Frage, Peabody?«
»Lediglich teilweise. Das heißt, du willst dich auf die Substruktur konzentrieren.«
»Ich beabsichtige, das Innere der Pyramide freizulegen.« Emersons attraktives Gesicht nahm den Ausdruck diabolischen Vergnügens an. »Ich habe Reisner das Geständnis abgerungen, daß er dort unten im letzten Jahr verflucht nichts unternommen hat. Barsantis Exkavationen waren unsachgemäß. Ich werde diese Sache systematisch und methodisch angehen und alle erdenklichen Sicherheitsvorkehrungen treffen. Das ist auch der Grund, warum ich den Schacht vollkommen freilegen will, bevor wir die Substruktur inspizieren.«
Hätten mich nicht andere Überlegungen abgelenkt, hätte ich Emersons neuen Plan freudig begrüßt. Genau das hatte ich die ganze Zeit gewollt. Es war absolut richtig, den Schacht freizulegen, bevor er mit der Erforschung der Substruktur fortfuhr. Falls der Mörtel sich löste, würden tonnenweise Gestein und Sand in die unteren Gänge hinabstürzen.
Den Eingang des Stollens kennzeichnete eine leichte Senke, die sich kaum von dem unebenen Boden abhob, allerdings hatten wir seine exakte Lage festgestellt, als wir unseren Plan des Ausgrabungsgebiets skizzierten. Emerson wies seinen Männern ihre Arbeit zu und deutete auf einen Bereich, den wir bereits zum Schuttabladeplatz erklärt hatten. Kurze Zeit später lag alles unter einer dichten Sandwolke, und die Korbträger eilten geschäftig hin und her, während sie die schwere körperliche Arbeit mit leisem Summen begleiteten. Offenbar hatten sie ihr ängstliches Mißtrauen hinsichtlich der Pyramide überwunden, das sie nach der Entdeckung von Maudes Leichnam befallen hatte.
Als ich meinen optimistischen Eindruck gegenüber Emerson zum Ausdruck brachte, schüttelte er jedoch den Kopf. »Noch arbeiten sie unter freiem Himmel und weit entfernt von der Stelle, wo ihre Leiche gefunden wurde. Vielleicht können wir sie erst gar nicht dazu bewegen, in die tieferen Gesteinsschichten vorzudringen.«
»Wir wollen hoffen, daß das nicht der Fall ist.«
Energisch schob Emerson sein Kinn vor. »Dafür werde ich schon sorgen.«
Die Hände in die Hüften gestemmt, beobachtete er aufmerksam, wie die Männer ihre Körbe mit Geröll füllten. Mir war klar, daß er ihnen bei dem kleinsten Anzeichen auf eine Erschütterung unter ihren bloßen Füßen und den emsigen Händen zu Hilfe geeilt wäre. Natürlich blieb ich an seiner Seite, um ihn bei einem Erdrutsch retten zu können.
Er und Selim bemerkten den Gegenstand im gleichen Augenblick; ihre Schreie signalisierten den Arbeitern, in ihren Aktivitäten innezuhalten. Bevor ich ihn aufhalten konnte, stürmte Emerson zu der Stelle. Selbstverständlich folgte ich ihm.
Der Gegenstand war ein Knochen, der für ein menschliches Skelett jedoch zu groß gewesen wäre; andere, teilweise unter einer feinen Sandschicht verborgene lagen auf einer Fläche von ungefähr einem Quadratmeter ringsherum verteilt. Mit einem Blick erkannte Emerson den Ursprung der sonderbaren Fundstücke.
»Tierbestattungen«, brummte er. »Sie wurden mumifiziert; da liegt ein Stück Leinenbandage. In Ordnung, Selim, kehr den Sand beiseite, rühr aber nichts an, bis wir Photos gemacht haben.«
Wir stießen auf mehrere Schichten aus Tierknochen und Hörnern – von Schafsbock, Ziege, Gazelle und Ochse –, die vom Treibsand fein säuberlich
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