Amelie und die Liebe unterm Regenschirm
sie die Eltern Vater und Mutter genannt. Josef Lenz liebte die deutsche Sprache und litt, wenn man sie verstümmelte. Zur Verstümmelung zählte er auch sämtliche Formen der Verzärtelung. Vater und Mutter seien die klarsten und schönsten Wörter für zwei der stärksten Begriffe im Leben eines Menschen, also: Vater und Mutter.
»Rotary Meeting«, antwortete Josef Lenz. Morgen halte der Wirtschaftsminister im Hotel de France einen Vortrag über die Einführung des Euro und die Auswirkungen derselben auf Klein und Mittelbetriebe. Es sei zwar noch eine Zeit lang hin, aber man setze sich doch besser mit dem unaufhaltsam Kommenden rechtzeitig auseinander. Er sah sie sorgfältig an. »Du siehst gut aus. Alles beim Alten?«
»Ja, Vater«, sagte sie automatisch. Und dann rutschte ihr völlig ungewollt ein »Leider« heraus.
Falls Josef Lenz aufhorchte, ließ er es sich nicht anmerken. Er nahm Amelies »Leider« kommentarlos zur Kenntnis und fragte ruhig und sachlich: »Kannst du dich am Nachmittag freimachen? Ich habe dem Hofeneder zugesagt, zu ihm zum Tee zu kommen. Er hat mich beschworen, dich mitzubringen, er sagt, du hättest es ihm versprochen.«
Amelie nickte. »Ich fahre jetzt mit dir ins Hotel und hole dich ab, wann es dir passt.« Der Vater wohnte nie bei ihr, wenn er in Wien war. Hausgäste zu haben, war ihm ebenso ein Gräuel wie selbst Hausgast sein. Jeder Mensch habe ein Recht auf seine Privatsphäre und seine Unabhängigkeit, auch die eigenen Kinder. Aber sie selbst wohne ja auch bei den Eltern, wenn sie nach Salzburg komme, hatte sie einmal argumentiert, und Josef Lenz hatte ihr Argument prompt entkräftet. Das Elternhaus sei die eine, einzige Ausnahme, weil es das Urzuhause eines jeden Menschen sei und bleibe.
Sie fuhren mit dem Taxi in das gemütliche alte Hotel in der Josefstadt, in dem Josef Lenz abzusteigen pflegte. Amelie besaß kein Auto, was Uli einmal als eine ihrer »anachronistischen Marotten« bezeichnet hatte. Keine Marotte, sondern Ergebnis budgetärer Überlegungen, hatte Amelie lachend gesagt. Sie besitze ein Fahrrad, das zu alt und schäbig sei, um gestohlen zu werden. Und »Öffis« seien nicht nur billiger, sondern unendlich viel kurzweiliger als Autos, weil man in ihnen Menschen beobachten könne. Und das Geld, das sie für ein eigenes Auto nicht ausgebe, erlaube ihr, Taxi zu fahren wie eine Diva.
Nachdem sie den Vater abgesetzt hatte, ging sie zu Fuß in den Laden. Sie malte ein Schild, Wegen dringender Familienangelegenheiten heute Nachmittag geschlossen , hängte es August um den Hals und tauschte ihn gegen die Schildkrötpuppe aus. Sie nahm ihren Missionischal aus der Auslage, drapierte ihn um Hals und Schultern und gönnte sich ausnahmsweise einen Blick in den Spiegel, um die Wirkung zu prüfen. Unternehmungslustig sehe ich aus, dachte sie, weil das Violett im Schal die gleiche Farbe hatte wie ihre Augen.
Die Wohnung des Wirklichen Hofrats Julius Ritter von Hofeneder war, was man in Wien »großbürgerlich« nennt. Ein gut zweihundertfünfzig Quadratmeter umfassendes Labyrinth von Repräsentations und Nebenräumen. In der Beletage eines Ende des 19. Jahrhunderts im Ringstraßenstil erbauten Wohnhauses gelegen. Eine breite Straße, fast ein Boulevard im dritten Wiener Gemeindebezirk, gute Gegend, früher noch besser, weil noch nicht unter dem Lärm des modernen Großstadtverkehrs erzitternd. Herrenzimmer, Damenzimmer, Salon und Speisezimmer in einer Flucht. Lange dunkle Gänge, die vom Entré vermutlich zu Schlafzimmern, Küche, Bad und wer weiß was sonst noch führten. Definitiv gab es da hinten auch ein Dienerzimmer und einen Klopfbalkon, denn beides hatte Hofeneder im Gespräch erwähnt.
»Mein Gott, Herr Hofrat, so viel Raum für einen einzigen Menschen, was fangen Sie denn ganz allein hier an«, sagte Amelie mit runden Augen und nahm sich ihre Bemerkung im selben Augenblick übel. Taktlos und indiskret, ärgerte sie sich.
Aber für Hofeneder war Amelie in jedem Fall ohne Fehl. Beglückt über ihre Anwesenheit strahlte er sie an. »Ich schlage meine Schlachten, Verehrteste«. Er deutete auf die großen, Billardtischen nicht unähnlichen Schaukästen, in denen seine Zinnsoldaten aufmarschierten. »Hier Marengo und Hohenlinden. Dort drüben meine Gesellenstücke: Custoza und Novara. Und im Herrenzimmer darf ich sie ersuchen, mein Meisterstück zu betrachten: die Völkerschlacht bei Leipzig.«
Während ihr Vater und der Wirkliche Hofrat eine Sandkastenversion der Schlacht
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