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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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den Kopf, um seine Gedanken zu klären.
    Er fühlte sich verloren und gereizt, vielleicht sogar ein bißchen schuldbewußt, weil er so früh am Nachmittag trank, obwohl dieser Tag den kleinen Lastern ja geradezu vorbehalten war, als er einen Druck an seinem Ellenbogen spürte, sich umdrehte, und Jack, Erna und Jack jr. als grinsende Gruppe hinter sich stehen sah. »Delaney«, flötete Jack und zog die letzte Silbe des Namens in die Länge, als könnte er sie nicht loslassen, »du siehst irgendwie verloren aus.«
    Jack hatte sich feingemacht. Dreiteiliger Anzug, gestärktes weißes Hemd mit Button-down-Kragen und Krawatte. Seine Frau, eine katzenhafte vollbusige Frau, die stets auf einer kontinentalen Begrüßung - Küßchen auf beide Wangen - bestand und einen - wie auch jetzt - mit ihren winzigen Fäusten an den Schultern packte, bis sie zufriedengestellt war, hatte sich ebenfalls feingemacht. Sie trug ein leichentuchartiges Abendkleid aus schwarzem Satin und mindestens sechzig Prozent ihres gesamten Schmucks. Sogar Jack jr. mit seinen Basketballschuhen, seinen Ohrringen und seinem lächerlichen Haarschnitt hatte sich feingemacht, mit einem Sportsakko, das seine immer breiter werdenden Schultern betonte, und einem Schlips, den er von seinem Vater geerbt haben mußte.
    »Ich bin auch verloren«, gab Delaney zu. Er hob das Bierglas und grinste. »Ist ein bißchen früh zum Trinken für mich - du weißt ja, Jack, ich und Alkohol -, außerdem muß ich heute noch ein sechsgängiges Essen über die Bühne bringen. Das euch übrigens hervorragend schmecken wird. Das alte New England mitten in Kalifornien. Oder jedenfalls das alte New York.«
    »Entspann dich, Delaney«, schnurrte Erna, »es ist Thanksgiving. Genieß die Party.«
    Jack jr. grinste ihn schief an. Er war einen Kopf größer als alle anderen im Raum. Seine Stimme überschlug sich, als er sich entschuldigte und auf das Spanferkel zusteuerte wie ein Inkubus der Nahrungskette.
    »Wie ich den Leserbriefen dieses Monats entnehme, hast du dir mit deinem Coyoten-Artikel einigen Protest eingehandelt«, bemerkte Jack, in dessen Hand jetzt wie durch Zauberei ein Glas Wein auftauchte. Erna grinste Delaney an und winkte über seine Schulter hinweg jemandem zu.
    Natürlich mußte Jack den Finger auf die Wunde legen. Delaney zuckte die Achseln. »Ja, scheint so. Es waren so um die dreißig Briefe, die meisten kritisch, aber nicht alle.
    Immerhin - irgendwas dürfte ich damit wohl ausgelöst haben.«
    In Wahrheit hatte ihn die Reaktion überrascht. Bislang hatte er nie mehr als ein halbes Dutzend Leserbriefe bewirkt - herausgefordert? -, alle von kiebigen Biologen, die seiner Beschreibung der schwarzfüßigen Wühlmaus widersprachen oder die Verwendung des eingebürgerten statt des wissenschaftlichen Namens für eine Pflanze kritisierten. Nun aber hatten seine Leser, samt und sonders eingefleischte Naturschützer, offenbar den Eindruck, er trete für eine Begrenzung der Coyotenpopulation ein, und obwohl ihm der Tod von Osbert nahe gegangen war, als er den Artikel geschrieben hatte, empfand er ihn überhaupt nicht als ökologisch unkorrekt. Beim zehnten Leserbrief hatte er seine Kolumne nachgelesen. Zweimal. Aber da war nichts. Sie kapierten es einfach nicht - sie lasen den Text nicht in dem Geiste, in dem er geschrieben war. Er sprach sich darin keineswegs für eine Kontrolle der Population aus - so etwas war nutzlos, wie die Geschichte zur Genüge belegte. Darauf hatte er ja auch hingewiesen. Er zeigte nur das Problem auf, stellte das Thema zur Diskussion. Natürlich waren nicht die Coyoten schuld, sondern der Mensch - hatte er das nicht klar zum Ausdruck gebracht?
    Jack grinste, die Lippen unmerklich geöffnet, so daß ein strategisches Blitzen von Zahnschmelz zu sehen war. Delaney kannte diesen Gesichtsausdruck. Er war skeptisch und leicht ironisch und sollte Richtern, Geschworenen und Staatsanwälten gleichermaßen vermitteln, daß die Frage noch lange nicht entschieden sei. »Also, wie ist es, Delaney - sollen wir die Fallen und Quoten wieder einführen oder nicht? Ihr habt zwei Hunde verloren, und wie viele Haustiere sind hier noch gerissen worden?« Er vollführte eine schwungvolle Gebärde, die das Zimmer, das Haus, die Wohnanlage insgesamt einschloß.
    »Stimmt genau«, sagte Kyra, die in diesem Moment hinter Delaney auftauchte und ihn am Arm faßte. »Damals hatten wir ja unseren Streit wegen der Mauer - ach was, ein richtiger Krieg war das, gnadenlos und

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