Amnion 2: Verbotenes Wissen
einem Material, das die Helligkeit aufzusaugen schien. »Die Verletzlichkeit der menschlichen Haut bereitet Menschen permanent Sorge. Das ist ein der Spezies angeborener, aber durch uns Amnion behebbarer Nachteil.«
Mit Verwunderung erkannte Morn, daß der Arzt möglicherweise versuchte, Davies ein wenig zu trösten. »Los, zieh dich an«, drängte Morn ihn mit unterdrückter Stimme. »Wir müssen an Bord der Käptens Liebchen zurück. Dort können wir uns unterhalten.«
Dann trat sie beiseite, um ihm zu zeigen, daß sie inzwischen wieder aus eigenen Kräften stehen konnte.
Er gehorchte, aber nicht, weil er ihr geglaubt, nicht weil er seine Furcht gemeistert und ihr Vertrauen geschenkt hätte, sondern aufgrund des Umstands – Morn wußte es so genau, da sie an seiner Stelle ähnlich empfunden hätte –, daß er sich wegen seiner Nacktheit allen erdenklichen Attacken und Manipulationen ausgeliefert fühlte. So ungeschickt, als übte sein Hirn noch keine völlige Kontrolle über den Körper aus, nahm er die Bordmontur entgegen und streifte sie über, stieg in die Stiefel. Die Kleidungsstücke hatten nicht die richtige Größe, paßten jedoch einigermaßen.
Von da an schien es, als ob das schweflige Licht nur noch sein Gesicht und die Hände erreichte, es hingegen an seiner Kleidung hinabtröffe wie Wasser. Aber es färbte seine Gesichtszüge mit einer wie gelbsüchtigen Tönung, und infolge des Kontrasts wirkte er seinem Vater gleichzeitig ähnlicher und unähnlicher: noch boshafter und doch seiner selbst unsicherer.
»Sind Sie fertig?« raunzte Nick. »Ich will jetzt hier raus.«
»Die Rückkehr in Ihr Raumschiff ist akzeptabel«, entgegnete der Amnioni. »Sie werden eskortiert.« Einen Augenblick später fügte er hinzu: »Weitere Gewaltanwendung wird nicht akzeptiert.«
Die Wächter ließen von Nicks Armen ab.
»Sag ihm, er soll mich in Ruhe lassen.« Davies’ Bitte hörte sich nicht anders an, als käme sie aus dem Mund eines verängstigten Kinds – des eingeschüchterten Kinds in Morn.
»Ich fasse dich nicht an, du Arschloch«, beteuerte Nick. »Wenigstens nicht hier. Du kommst mit auf mein Raumschiff. Aber wenn du erst an Bord bist, dann mache ich mit dir, was ich will, verdammt noch mal.«
Betroffen und flehentlich fiel Davies’ Blick auf Morn.
»Ich kann dir nicht sagen, daß du dich nicht vor ihm zu fürchten brauchst«, gestand sie mit schwankender Stimme. »Ich fürchte mich auch vor ihm. Aber hier können wir nicht bleiben. Das ist dir klar. Irgendwo in deinem Innern weißt du’s selbst.« Insgeheim rang sie wie eine Besessene um Kraft, um das Vermögen, ihm ihre Worte eingängig, sie glaubhaft zu machen. »Irgendwo innerlich weißt du, wie du dich wehren mußt. Und ich stehe auf deiner Seite. Vollkommen.« Sie sprach zu ihrem Sohn, sorgte jedoch dafür, daß Nick sie hörte, er begriff, daß sie eine Drohung äußerte. »Ich tu alles, was in meiner Macht liegt, um dir zu helfen.«
Für einen langen Moment erwiderte Davies ihren Blick, als müßte er ohne sie in seiner Furcht versinken. Dann nickte er bedächtig.
Einer der Wächter öffnete die Tür zum Korridor, in dem noch das Transportgefährt bereitstand.
»Kommt!« Nick drehte sich um und stapfte zum Laboratorium hinaus.
Der Arzt nahm Morns EA-Anzug, übergab ihn ihr. Sie klemmte ihn sich unter den Arm, um eine Hand frei zu haben und in ihre Tasche langen zu können. Sie taumelte noch, als sie sich Nick anschloß.
Dumpfer Schmerz durchpochte die gesamte Mitte ihres Körpers, vom Schritt bis zum Herzen, als wäre ihr etwas Lebenswichtiges aus dem Leib gerissen worden. Sie konzentrierte sich auf diese Beschwerden, damit die Sorge um ihren Sohn sie nicht übermächtig beschäftigte.
Voraus bestieg Nick den Wagen. Sie folgte ihm.
Und ebenso Davies. Während der Rückfahrt durch Station Potential zur Käptens Liebchen blickte er, obwohl er bei Morn saß, starr an den Schultern des Amnion-Fahrers vorbei nach vorn, als könnte er den Anblick seiner Mutter nicht ertragen.
Als sie die hohe, weiträumige Leere der Docks erreichten, konnte er nicht mehr verheimlichen, daß er zitterte. Morn mutmaßte, daß seine Gewißheit des wenigen, das er wußte, schon zu bröckeln begonnen hatte, nicht nur durch den Schock, den es ihm bereitet hatte, sich selbst in jemand anderem wiederzuerkennen, die eigene Identität geleugnet zu sehen, sondern auch durch das physische Erbe seines Vaters, durch Testosteron und das Gleichgewicht männlicher
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