Amnion 4: Chaos und Ordnung
praktisch, daß jede Sprache, die darauf verzichtete, einen beinahe unerträglich umständlichen und restriktiven Eindruck erregte.
Was implizierte das Fehlen von Personalpronomen über die Natur der Amnionintelligenz und Denkmuster oder den Charakter des amnionischen Strebens?
Diese Fragen hatten eine eminente Wichtigkeit, weil die Menschheit keinen Anlaß dazu sah, die Gegebenheit eines genetischen Hegemonismus der Amnion anzuzweifeln. Und wenn man die Amnion nicht durchschaute, wie könnte man sie dann in einem kriegerischen Konflikt besiegen?
Alle Bemühungen, die bekannten Eigenschaften der Amnionsprache zu interpretieren, stützten sich auf entweder die eine oder die andere zweier unterschiedlicher Hypothesen, von denen jede ihre Anhänger und Gegner hatte, jede hinsichtlich des Umgangs der Menschheit mit dem Bannkosmos ihre besonderen Implikationen aufwies.
Die eine Hypothese postulierte das Vorhandensein eines ›Kollektivbewußtseins‹ der Amnion. Indem sie Analogien zu gewissen Insektenarten zog, behauptete diese Theorie, sämtliche Amnion seien Teil einer gemeinschaftlichen Intelligenz, die ihr materielles Zentrum oder ihren Nexus – quasi die ›Königin‹ – irgendwo fern im von den Amnion beherrschten Weltall hätte. Einzelne Mitglieder oder Bestandteile dieser Kollektivintelligenz führten zwar eine gesonderte körperliche Existenz, hätten jedoch keine eigenständigen Gedanken und keinen eigenen Willen. Vielmehr sei jedes Mitglied im Effekt nur ein Neuron oder Ganglion des Kollektivs, übertrüge Informationen nach innen und setzte den Kollektivwillen nach außen in Handlungen um.
Vertreter dieser Theorie benutzten sie gern, um zu erklären, warum der erste Mensch, an dem ein Experiment mit Amnion-Mutagenen durchgeführt worden war, den Verstand verloren hatte. Während die Frau, die sich für das Experiment freiwillig gemeldet hatte, transformiert wurde, sei sie wahnsinnig geworden, weil die Distanz falls es keine andere Ursache gab – die neue Amnioni vom Ursprung ihrer Identität und des Daseinssinns abgeschnitten hätte. Im Rahmen der Kollektivbewußtsein-Hypothese betonte man sehr eine Anzahl von Berichten, denen zufolge manche Menschen gehört haben wollten, wie Amnion eine Entität, ein Konstrukt oder eine Konzeption mit der Bezeichnung ›Geist-Gemeinschaft‹ erwähnten. Was sollte damit gemeint sein, lautete das Argument, wenn nicht die ›Königin‹ des amnionischen ›Ameisenstaats‹, der Mittelpunkt von Intelligenz und Intention der gesamten Spezies?
Traf die Kollektivbewußtsein-Hypothese zu, wäre es die erfolgversprechendste Strategie der Menschheit gegen die Amnion gewesen, den Sitz der ›Geist-Gemeinschaft‹ zu lokalisieren und sie auszumerzen. Ohne ihre ›Königin‹ verfiele die komplette Spezies in einen Zustand des Irrsinns.
Die zweite Hypothese unterstellte hinterhältigere Verhältnisse und war deshalb auf gewisse Weise furchterregender. Ihre Befürworter verwarfen die Auffassung, die ›Geist-Gemeinschaft‹ könnte eine physische Entität oder ein materieller Nexus sein; vielmehr sahen sie darin eine abstrakte Anschauung, eben das Äquivalent von Wörtern wie ›Gut‹ und ›Böse‹, mit denen Menschen ihr Handeln begründeten. Und sie widersprachen der Einschätzung, daß die Frau, der als erstem Menschen ein Amnion-Mutagen injiziert worden war, den Verstand infolge des Getrenntseins von der ›Geist-Gemeinschaft‹ verloren hätte: sie vertraten die Ansicht, die Ursache der Geistesstörung sei darin zu erblicken, daß das Mutagen sie der genetischen Identität beraubt hätte.
Diese andere Hypothese besagte, Motivation und Aktionen der Amnion gingen nicht von einem ›Kollektivbewußtsein‹ oder einem ›Ameisenstaat‹ aus, sondern von den grundlegenden Codierungen der Nukleotide ihrer RNS. Sie hätten aus dem gleichen Grund keine den menschlichen Vorstellungen ähnlichen, abstrakten Begriffe, aus dem sie keine Personalpronomen kannten: sie brauchten keine. Ihr Imperialismus sei sowohl in inhaltlicher Beziehung wie auch der Form nach genetischer Natur; im Ursprung ebenso wie im Effekt. Mit dem menschlichen Drang zur Fortpflanzung zu vergleichende Imperative bewegten sie zum Handeln. Treibende Elemente, die gleichzeitig fundamentaler, allumfassender und plausibler seien, als die Direktiven einer enorm fernen ›Königin‹, die zudem einen beispiellos homogenisierenden Einfluß haben müßte, würden aus den Amnion eine Gemeinschaft schmieden und sie zu
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