Amnion 4: Chaos und Ordnung
Taten drängen.
Kein ›chirurgischer Schlag‹ irgendwo im Bannkosmos, wandten die Meinungsführer der Theorie vom genetischen Imperativ ein, könnte die von den Amnion ausgehende Bedrohung in relevantem Umfang vermindern. Die buntscheckige und vielfältige Reichhaltigkeit des Lebens in der Galaxis sei niemals in Sicherheit, solange man nicht die Existenz jedes einzelnen Amnioni ausradiert hätte.
HASHI
Während er durch die Korridore des VMKP-HQ zur Reede schlurfte, dachte Hashi Lebwohl über die Quantenmechanik der Realität nach. Werner Heisenberg, dieser sonderbare Mensch, hatte die Wahrheit konstatiert, als er seiner Zeit um Jahrzehnte voraus – das Postulat äußerte, Position und Geschwindigkeit eines Elektrons könnten nie gleichzeitig bestimmt werden. Wenn man wußte, wo sich ein bestimmtes Partikel befand, ließ sich seine Bewegung nicht bestimmen. Quantifizierte man seine Bewegung, konnte man nicht mehr seine Lokation ermitteln. Das eine Wissen schloß das andere aus: Auf ähnliche Weise behinderte bisweilen die Bemühung, die Realität zu verstehen, daß man sie durchschaute. Und doch hätte die Menschheit ohne die Mühe des Erkennens nie erfahren, daß es überhaupt Elektronen gab; daß die verläßliche Festigkeit des Makrokosmos von den undefinierbaren Aktivitäten im Mikrokosmos abhing.
Hashi selbst agierte wie eine Art von atomarem Partikel, veränderte die Wirklichkeit, indem er sich bewegte; er schuf neue Tatsachen und negierte alte Fakten, während er in seinen schäbigen Schuhen mit den offenen Schnürsenkeln zu der Astro-Parkbucht latschte, in der das Shuttle nach Suka Bator wartete.
Diese Metapher gefiel ihm. Normalerweise maß der Direktor der VMKP-DA-Abteilung der Wahrheit keinen erhöhten Stellenwert bei. Trotzdem erübrigte er für sie gewaltige Bewunderung. In seinen Augen war das wechselhafte, aber nahtlose Fließen von Sachverhalten und ihren Deutungen, das die Realität konstituierte, ein prozeßartiger Vorgang von überragender Schönheit. Er machte sich auf den Weg, um gewisse Wahrheiten aufzuklären und dadurch andere Wahrheiten zu eliminieren.
Niemand hatte ihn aufgefordert, mit Koina Hannishs RÖA-Shuttle zur Erde hinabzufliegen und an der nächsten Sitzung des Erd- und Kosmos-Regierungskonzils teilzunehmen. Die Öffentlichkeitsarbeit zählte nicht zu seinen Dienstpflichten. Was geschah, wenn sich das EKRK zu einer Sondersitzung traf, um Kapitän Vertigus’ bislang geheime Vorlage des Abtrennungsgesetzes zu debattieren, ging Hashi Lebwohl nichts an.
Genausowenig fiel die Sicherheit auf Suka Bator in seine Zuständigkeit. Warden Dios hatte in offenkundiger Verärgerung die Aufgabenstellung ins kummervolle Gesicht geschleudert, die VMKP-Untersuchung der terroristischen Anschläge weiterzubetreiben, die Godsen Frik und beinahe auch Kapitän Sixten Vertigus das Leben gekostet hatten.
Doch solche Erwägungen hielten Hashi Lebwohl nicht zurück. Ungeachtet der Tatsache, daß er gegenwärtig die Verantwortung für ganz andere Angelegenheiten hatte, zog er seine Id-Plakette und sonstige Legitimationen aus der Tasche, zeigte sie am Dock wie eine Handvoll Spielkarten den verdutzten Posten vor und stieg, als hätte er dazu jedes Recht, unter fortwährendem Schwatzen in den Raumflugkörper.
Immerhin war er der Direktor der VMKP-Abteilung Datenakquisition, und ihm zu widersprechen empfahl sich nicht. Er durfte davon ausgehen, daß das VMKP-HQ-Sicherheitspersonal ihm nie etwas ablehnte. Statt dessen nahm es in solchen Situationen mit Warden Dios Rücksprache. Sollte Hashi Lebwohls Verhalten von Warden Dios mißbilligt werden, konnten die Wächter ihm immer noch am Zielort das Verlassen des Shuttles verwehren.
Er glaubte nicht, daß Warden Dios seine Absicht beanstandete. Trotz des unglückseligen Kontrakts, den er Darrin Scroyle, dem Kapitän der Freistaat Eden, zugeschanzt hatte, unterstellte er – oder vielleicht hoffte er es einfach –, daß Dios ihm nach wie vor Vertrauen entgegenbrachte. Unaufhörlich kombinierten und rekombinierten sich subatomare Partikel und schufen neue Tatsachen, neue Realitäten; neue Wahrheiten. Hashi hatte vor, Dios’ Vertrauen zu rechtfertigen. Ergab sich das Erfordernis, daß der DA-Direktor dafür sich selbst einem Risiko aussetzte, scheute er es nicht.
Ob genehmigt oder nicht, seine Teilnahme an der EKRK-Sitzung bedeutete eine Gefährdung. Koina Hannish hatte ihm von Kapitän Vertigus eine Warnung übermittelt. Richten Sie Direktor
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