Amok: Thriller (German Edition)
wiederkommen würde. Der restliche Abend lag wie ein gähnender Abgrund vor ihm. Er konnte entweder in diesem Zustand verharren oder sich gleich noch einmal betrinken.
Noch bevor er zu einer Entscheidung gelangen konnte, klingelte es an der Tür. Er ging hin, um zu öffnen, und fragte sich, ob es vielleicht die Polizisten waren, die ihm etwas zu sagen vergessen hatten. Doch es war Abby Clark. Sie sah müde aus, aber merkwürdig aufgekratzt. In der Hand hielt sie einen Karton vom Pizzaservice um die Ecke.
»Tut mir leid, wenn ich dich so einfach überfalle …«
»Aber?«
»Darf ich hier drin essen? Mir ist sehr kalt, und ich bin ganz ausgehungert.« Sie trat näher, und der Duft von geschmolzenem Käse und Salami stieg ihm in die Nase. Sein Magen knurrte vernehmlich.
»Hört sich an, als könntest du auch einen Happen vertragen.«
Er zuckte mit den Achseln. »Kein Appetit. Die Polizei war gerade hier.«
»Ich weiß. Ich habe sie weggehen sehen.«
Er musste unwillkürlich lächeln. »Du hast also einfach lange genug gewartet …?«
»Nicht zu lange. Die Pizza wäre sonst kalt geworden.« Das Funkeln in ihren Augen war wie ein Laserstrahl, der jeden Unmut, den er empfinden mochte, im Keim erstickte.
Sie folgte ihm in den Flur und streifte ihre Jacke ab. »Ist Nina nicht zu Hause?«
»Nein.« Er blieb in der Wohnzimmertür stehen. »Brauchst du einen Teller? Besteck?«
»Ach was. Und ich bestehe darauf, mit dir zu teilen.«
Sie setzte sich neben ihn aufs Sofa, zog den Tisch heran und öffnete den Karton. Dann riss sie ein großes Stück mit viel Käse ab und hielt es ihm hin. »Iss.«
Er biss halbherzig ab. Kaute, schluckte und zuckte zusammen. Es kratzte im Hals, als hätte er ein Stück Pappe verschluckt, aber wenigstens würde es helfen, den Alkohol aufzusaugen.
»Schlechte Nachrichten, nehme ich an?«, fragte Abby und angelte sich einen langen Käsefaden vom Kinn.
Craig nickte. Er wollte ihr erzählen, dass sein Vater tot war, und musste feststellen, dass es ihm die Sprache verschlagen hatte. Er hatte sich die richtigen Worte alle im Kopf zurechtgelegt, aber sein Mund wollte sie einfach nicht herauslassen.
Es hätte Nina sein sollen, die ihn tröstete, nicht Abby, aber das spielte in diesem Moment keine Rolle. So elementar war der Schmerz, der ihn urplötzlich überfiel, dass er sich unmöglich unterdrücken ließ. Er war schockiert von der Heftigkeit seiner Gefühle. Praktisch zum ersten Mal seit der Geburt seiner Kinder weinte er hemmungslos, ohne jede Befangenheit, ohne auch nur für einen Moment zurückzutreten und seine eigenen Gefühle zu analysieren, wozu er sonst immer neigte.
Abby zeigte sich der Aufgabe gewachsen, was er ihr hoch anrechnete. Sie scheute sich nicht, ihn fest im Arm zu halten. Sie beklagte sich nicht, als seine Tränen über ihren Hals liefen und ihre Bluse tränkten. Sie roch warm und wunderbar, aufregend fremd, und als dieser Gedanke in sein Bewusstsein drang, wusste er, dass es Zeit war, sich von ihr zu lösen.
»Entschuldige«, sagte er. »Und danke.«
»Du würdest das Gleiche für mich tun. Wenn auch mit einer Erektion.«
Die Bemerkung war so anzüglich und zugleich so wahr, dass er überrascht auflachte. Im ersten Moment fühlte er sich schuldig und gleich darauf schon wesentlich besser. Besser als je zuvor an diesem langen, fürchterlichen Tag.
»Ich wärme die Pizza auf«, sagte er.
»Gute Idee. Und eine Tasse Tee wäre fantastisch.«
Sie begleitete ihn in die Küche, bewunderte ein paar Sekunden lang die Einbauschränke und fragte dann: »Wo ist Nina denn eigentlich?«
»Keine Ahnung. Sie weiß das mit meinem Vater noch gar nicht.« Er brach ab, und die Schuldgefühle waren plötzlich wieder da. »Sie hat einen anderen, und heute war nicht gerade der ideale Zeitpunkt, das herauszufinden.«
»Machst du Witze?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ist es was Ernstes?«
Er ließ die Pizza auf ein Backblech gleiten und drehte sich zu ihr um. »Spielt das eine Rolle?«
»Ja. Es muss eure Ehe nicht zerstören. Nicht, wenn du es nicht willst.«
»Würdest du das auch sagen, wenn Nigel mit anderen Frauen ins Bett ginge?«
»Wir haben uns letztes Jahr getrennt.«
»Wirklich? O Gott, das habe ich nicht gewusst. War jemand anders im Spiel …?«
»Kann man so sagen.« Jetzt wurde sie ein wenig rot, was er bei ihr noch nie gesehen hatte.
»Hast du zurzeit jemanden?«
Sie nickte. Dann musterte sie ihn und lachte. »Schau nicht so enttäuscht.«
»Tu ich doch gar
Weitere Kostenlose Bücher