Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
höre ihr gar nicht zu, blicke sie nur an.
Ich habe sie vermisst.
Jetzt fehlt ihr die Luft zum Atmen. Ich kann es fast nicht ertragen zu sehen, wie sie nach Sauerstoff ringt. Sie ist todkrank. Sie tut mir leid.
Ich spule immer wieder zurück, schaue mir die Szenen ein zweites, ein drittes, ein viertes Mal an. Erst spät nehme ich wahr, was sie sagt. Immer noch verteidigt sie sich. Sie hatte Zeit nachzudenken, aber sie ist unbelehrbar. Sie hat sich nicht geändert.
Ich bin traurig und wütend. Wütend auf sie, aber auch auf die Filmleute um sie herum. Sie richten die Kamera direkt auf meine kranke Großmutter, lassen sie einfach nicht in Ruhe. Irene antwortet ausweichend. Ihr Englisch ist ausgezeichnet. Ihre Stimme klingt vertraut, angenehm. Wie früher. Wenn sie nur nicht diese unglaublichen Dinge sagen würde. Ich höre ihre unterdrückte Wut. Sie fühlt sich in die Ecke gedrängt.
Am nächsten Tag wird sie tot sein. Denkt sie während des Interviews schon an die Tabletten, die sie schlucken will? Wann hat sie angefangen, sie zu sammeln? Hat sie die Schreibmaschine schon hervorgeholt, auf der sie den Abschiedsbrief tippen wird? Oder wird ihr erst während dieses Gesprächs klar, dass es so weit ist, dass sie ihrer Krankheit nicht mehr entkommen kann und ihrer Vergangenheit auch nicht?
Ruth Irene Göth kurz vor ihrem Selbstmord, 1983
Immer mehr Fragen prasseln auf sie ein. An ihrem Blick erkenne ich, dass sie in Ruhe gelassen werden möchte, nicht mehr antworten will. Aber die Kamera bleibt auf ihrem erschöpften Gesicht. Ich betrachte ihre Augen. Die mag ich am liebsten. Man sagt, wenn jemand lügt, weichen die Augen aus, flackern, schauen weg nach oben. Aber sie schaut nicht weg. Ihre Augen blicken geradeaus. Ich ertappe sie nicht beim Lügen. Das macht es besonders schmerzhaft: Sie glaubt tatsächlich, was sie da sagt.
Im Abschiedsbrief erwähnt sie die Opfer nicht. Es geht nur um sie, um ihre Krankheit.
Im Brief schreibt sie auch nur von einem Kind, sie meint die zweite Tochter meiner Mutter, meine jüngere Halbschwester. Ich war adoptiert und damit fort. Trotzdem glaube ich, dass meine Großmutter bis zum Schluss an mich dachte.
Ich hätte gerne einen anderen Großvater. Aber ich hätte immer wieder gerne diese Großmutter.
Vielleicht wäre es anders, wenn ich sie noch getroffen hätte, als ich älter war. Wenn ich mit ihr diskutiert hätte, sie auch mir diese Familienlüge weitererzählt hätte, die meiner Mutter das Leben so schwergemacht hat. Dann wäre meine innere Zerrissenheit sicher viel größer. Aber ich habe nie mit ihr diskutiert. Ich war ein Kind.
Das bedeutet nicht, dass ich gegenüber meiner Großmutter loyal bin oder sie in Schutz nehmen möchte. Ich distanziere mich von dem, was sie im Lager getan und leider auch nicht getan hat. Ich distanziere mich von ihren späteren Äußerungen. Aber ich unterscheide ganz simpel zwischen Ruth Irene Göth, der öffentlichen Person, und Irene, meiner Großmutter.
Viele Kinder und Enkel von Nationalsozialisten fühlen sich verpflichtet, sich für ihre Angehörigen zu entschuldigen. Die Enkel tun das nicht mehr so direkt wie die «Büßergeneration» der Nazi-Kinder. Am Anfang habe ich diesen Reflex auch bei mir bemerkt. Diese Angst: Wie reagiert mein Umfeld, wenn ich sage, ich liebe meine Großmutter?
Das Buch über meine Mutter trägt den Titel: «Ich muß doch meinen Vater lieben, oder?» Das impliziert, dass sie ihren Vater eigentlich nicht lieben darf. Der Autor, Matthias Kessler, konfrontiert meine Mutter immer wieder mit den Untaten ihres Vaters. Ich sehe beim Lesen seinen erhobenen Zeigefinger, höre den wertenden Unterton: Diesen Vater, dieses Monster, darfst du nicht lieben!
Aber die Psychologie des Menschen funktioniert anders. Würden meine Kinder etwas Schreckliches tun, dann würde ich ihre Tat mit aller Entschiedenheit verurteilen – aber ich würde nicht aufhören, sie zu lieben.
Oft wird den Nachfahren der Täter unterstellt, sie würden für sich ein psychologisches Gerüst schaffen, um mit den schrecklichen Taten irgendwie klarzukommen und sich der Reste eines guten Vaters, einer guten Großmutter zu versichern: Sie würden sich einreden, der Täter sei doch nur ein Befehlsempfänger gewesen und andere hätten noch viel schrecklichere Verbrechen begangen. Einige Nachfahren würden sich an der Phantasie festklammern, der Täter habe in letzter Minute doch noch alles bereut.
Ich glaube, dass ich das nicht tue. Ich habe mir zwar
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