Amy on the summer road
konzentrierter und hatte sogar ein bisschen Farbe gekriegt. Ich fühlte mich so ähnlich wie beim Optiker, wo man nacheinander durch verschieden starke Brillengläser schaut, bis man scharf sieht und dann erst wahrnimmt, was man bis dahin nicht erkennen konnte.
»Hi«, sagte ich und ging auf ihn zu.
»Na so ’ne Überraschung.« Charlie klang cool, aber ich kannte ihn gut genug, um zu sehen, dass ich ihn aus dem Konzept gebracht hatte. »Warst du grad hier in der Gegend?«
»Sozusagen«, sagte ich und warf einen raschen Blick auf die Sprechanlage. »Ich hab die Durchsage eben gehört. Du musst in 20 Minuten los?«
»Mehr so in 15 Minuten«, warf Muz hinter mir ein, und ich drehte mich vorsichtig halb um. Aber glücklicherweise hatte er jetzt Shorts und T-Shirt an und hielt mir die Hand entgegen. »Zach Tyler«, stellte er sich vor.
»Amy Curry«, erwiderte ich und wir schüttelten uns kurz die Hand.
»Oh, das weiß ich schon«, sagte er. »Das kannst du mir voll glauben.«
Ich sah zu Charlie, der aber nur lächelte und sagte: »Amy, das ist Zach oder eher bekannt als Muz.«
»Messed-up Zach«, erläuterte der verkorkste Zach. »Aber um der Effizienz willen bleiben wir meistens bei der Kurzform.«
»Muz kommt aus Richmond in Virginia, und bis vor Kurzem gehörte noch Freebasing zu seinen Hobbys.«
»Hi«, sagte ich zu Muz und sah dann wieder zu meinem Bruder. »Du musst also in 15 Minuten los?«
Charlie sah auf die Uhr, die zwischen den zwei Betten hing. »Ja.«
»Musst du dahin? Ich meine, kannst du vielleicht auch schwänzen?«
»Nee, schwänzen ist nicht«, sagte Charlie in recht scharfem Ton. »Das ist keine Klassenlehrerstunde, Amy, hier geht’s um Entzug.«
Muz räusperte sich und murmelte: »Also ich warte dann mal lieber draußen im Flur, okay?«
»Danke«, sagte Charlie. Muz schlurfte hinaus und zog die Tür noch etwas näher ans Schloss, ließ sie aber immer noch einen Spalt offen.
»Hübsch hier«, sagte ich und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen.
Ich wusste genau, welche Seite Charlie gehörte, denn um sein Bett herum waren Bücher aufgestapelt, und ein Tennisschläger mit einer Packung Tennisbälle lag daneben. Es sah ganz so aus, als ob er während seines Aufenthaltes hier wieder mit Tennisspielen angefangen hatte. In seiner Freizeit. Wieder spürte ich Wut in mir aufsteigen.
»Amy, was willst du hier eigentlich?«, fragte Charlie und starrte mich an.
»Ich war gestern in Graceland«, sagte ich und hielt seinem Blick stand.
Charlies Miene wurde ein wenig verschlossener. »Oh.«
»Genau.« Ich hörte, wie meine Stimme ein bisschen zitterte. »Du weißt doch, die Fahrt, auf die du keine Lust hattest? Als du Dad gesagt hast, wie öde du die Idee findest?« Charlie schaute zu Boden. Er hob einen Tennisball auf und nahm ihn sehr fest in die Hand. »Ich hatte gedacht, dass wenigstens einer von uns dorthin fahren sollte«, fügte ich noch hinzu.
»Und wozu bist du hergekommen?« Charlie wirkte gestresst. »Im Ernst. Bloß, um mir ein schlechtes Gewissen zu machen?«
»Nein.« Das hatte ich nicht gewollt, aber ihn hier so zu sehen, fachte meinen Ärger neu an, den ich schon seit Längerem zurückhielt. Ein bisschen davon hatte sich schon in den Telefongesprächen mit meiner Mutter seinen Weg gebahnt, was natürlich längst nicht alles gewesen war. »Aber falls ich das doch getan haben sollte, kannst du ja sicher in deiner Gruppe darüber reden.«
Charlie schoss einen wachsamen Blick auf mich ab. »Woher weißt du das?«
»Oh, ich bin nur bei zwei Mädchen durchs Fenster geklettert, die offenbar komplett über mich informiert waren. Ganz einfach.«
»Wir reden hier eben über alles«, verteidigte sich Charlie. »Das gehört zur ganzen Philosophie hier.«
»Und warum ...«, fing ich an, und dann versagte mir die Stimme. »Und warum konnten wir das nicht? Warum haben wir immer ...« Ich suchte nach dem passenden Wort, fand es
aber nicht. Ich wollte wissen, warum wir uns in verschiedene Ecken unseres Hauses und dann in verschiedene Teile des Landes verkrochen hatten. Warum wir in verschiedene Richtungen gegangen waren, wenn wir uns eigentlich hätten treffen sollen. Ich setzte mich bei Muz auf die Bettkante und sah meinen Bruder an. »Vielleicht hab ich dich ja gebraucht«, sagte ich. »Aber du warst immer zugedröhnt und ...«
»Ach, darum geht’s also.« Charlies Stimme wurde etwas ungehaltener. Da war wieder dieser Ausdruck in seinem Gesicht, den ich noch nie leiden konnte
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