An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
war das andere? Jede Wand wies zwei kleine vergitterte Öffnungen auf, doch viel Licht drang nicht hindurch. Sie wollte hinter sich nach der Tür greifen, um sie zuzuziehen, und wappnete sich für eine Auseinandersetzung mit dem Gendarm, weil er dies nicht gestatten würde. Stattdessen schloss er sie selbst. Zögernd richtete sie sich auf, unsicher, ob der Wagen hoch genug war, um darin zu stehen. Sie wartete, dass sich aus den Schatten Umrisse schälten, und ängstigte sich davor. Sollte sie nicht besser hoffen, dass das alles ein Irrtum war? Vor einem Jahr war Arturo spurlos verschwunden – und jetzt sollte er hier sein?
Er war es.
Er saß auf einer Bank am hinteren Ende. Das Erste, was sie sofort wiedererkannte, waren seine hellen Kniehosen. Die trug er erstaunlicherweise immer noch, jedoch waren sie dreckig und löchrig. Sein Haar lag offen auf den Schultern. Sein Oberkörper war nackt, sehnig, voller Schrammen und Blutergüsse. Und magerer. Die Hände hatte er im Schoß zu Fäusten geballt. Eisenbänder lagen um die Gelenke. Eine lange Kette führte von der Handfessel zwischen seinen Beinen hindurch zum Boden, wo am letzten Glied eine kürzere hing; sie endete in Eisenfesseln um seine nackten Füße. Janna ahnte, dass sie jede Einzelheit in sich aufsog, um den Augenblick hinauszuzögern, ihm ins Gesicht zu sehen.
Ihr entging nicht, dass er sie ebenfalls einer Musterung unterzog.
Es half nichts, die Zeit war kurz – sie hob die Augen. Sein düsterer Blick verhakte sich in ihrem.
Unbeholfen machte sie zwei langsame Schritte auf ihn zu. Der Boden des Wagens schien zu schwanken. Nein, das meinte sie nur; es war sie selbst, die irgendwo hinsinken wollte, weil sie sich plötzlich zu schwach zum Stehen fühlte. Eine quer in der Mitte festgenagelte Bank, die sie zuvor nicht bemerkt hatte, hielt sie auf. Sie drohte nach vorn zu fallen und musste sich auf der Sitzfläche abstützen. Unsicher, was sie jetzt tun sollte, reckte sie sich und strich sich nervös über das Haar.
«Arturo …», kam es ihr endlich über die trockenen Lippen.
«¡Esfúmate!», fauchte er sie an. Dass er früher mit ihr Deutsch geredet hatte, schien er vergessen zu haben. Seine vertraute Stimme, wenngleich rau und erschöpft, löste den Knoten der Unsicherheit. Sie umrundete die hinderliche Bank.
«Nein, ich verschwinde nicht», erwiderte sie auf Spanisch. Dass sie reden konnte, dazu verständliche Worte und kein Geplapper, das so schwankte wie ihr Inneres, erstaunte sie. «Wir haben eine Viertelstunde.»
«Wozu?» Er neigte sich vor; die Ketten klirrten. Jetzt sah sie, dass ein dicker Eisengürtel um seine Mitte lag; daran waren seine gekreuzten Hände festgemacht, ebenso eine Kette in seinem Rücken, die ihn an die Wand hinter ihm fesselte. Janna zwang sich, nicht zurückzuweichen. Seine Armmuskeln spannten sich, als wünschte er sich, die Arme recken zu können. Um sie fortzustoßen. Oder zu schlagen.
Sein Haar und seine Hose waren feucht von Wasser. Hatte man es ihm übergeschüttet, damit er nicht ganz so schlimm nach dem Tartaros des Gefängnisses stank? Hatte man ihm überhaupt gesagt, welchem Zweck dieser Ausflug diente? Oder war er in dem Glauben fortgekarrt worden, es ginge zur Hinrichtungsstätte? War der Grund für seine Aufgebrachtheit, dass er nun erkannte, sein Leben fortsetzen zu müssen? Nein, ein solcher Gedanke gehörte eher in das Reich todessehnsüchtiger Literatur. Arturo strotzte vor Leben. Selbst jetzt noch. Der da in Ketten vor ihr saß, war immer noch der Wolf.
Sie verzehrte sich danach, ihn zu berühren. Doch sie wagte nicht, die drei Schritte zurückzulegen, die sie noch von ihm trennten.
Mörder. Der Mann ist ein Mörder .
Er sah so aus, weiß Gott.
Sah so ein Kannibale aus?
Nein. Weil es nicht wahr war. Nicht wahr sein konnte. Wozu hatte sie eine Seele, wenn sie die Wahrheit dann nicht spürte?
Bist du dir ganz sicher …
Ja. Ja. Fast.
«Ich nehme an, du wolltest mich sehen», sagte er eisig. «War es das?»
Ihretwegen hatte man ihn auf erbärmliche Art vorfahren lassen wie ein Schaustück. Aber so hatte sie es nicht gewollt!
«Geh. Geh, vergiss mich, Janna!»
Die Vernunft sagte ihr, es zu tun: den Arrestantenwagen verlassen, bevor sie beide den Rest schöner Erinnerung, die sie aneinander hatten, verloren. Aber er hatte einen Fehler begangen. Er hatte sie bei ihrem Namen genannt.
Du nennst mich Janna. Ich nenne dich nicht mehr den Drachenherrn.
«Dich zu vergessen, habe ich die ganze
Weitere Kostenlose Bücher