An einem Tag im Januar
Chloe zeigen. Sie würden ihr gefallen. Zum ersten Mal seit dem College würde er ihr etwas zeigen können, das er geschaffen hatte – ein Werk seiner Hände –, das etwas bedeutete .
Denn diese Bilder – und das war nur eins von den hundert Dingen, die er in den letzten Tagen begriffen hatte –, diese Bilder waren von Anfang an für sie bestimmt gewesen.
Mit der Erinnerung tat er sich schwerer. Eine einzige sollte er auswählen? Ganz still lag er unter Chloes Arm und ging sie im Geiste durch.
Brendan beim Schachspielen. Brendan hundspaddelnd im Schwimmbad, das Kinn aus dem Wasser gereckt. Brendan mit drei oder vier, als er seinen Sinn für Humor zu entdecken begann und wie ein Wilder loslachte, sobald sich irgendeine von Marks Äußerungen auch nur annähernd wie ein Witz anhörte.
Seine Kinderwitze: Sag mal Klettergerüst.
Klettergerüst.
Du hast ’ne nackte Frau geküsst!
Sag mal Fenster.
Deine Eltern sind Gespenster!
Und natürlich die frühen Erinnerungen: der Tag von Brendans Geburt. Brendan schlafend in seinem Bettchen oder auf Marks oder Chloes Arm. Brendans erstes schiefes Säuglingsgrienen. Der Huckel seines ersten Zahns. Brendan, der sich den verstauchten Knöchel rieb. Der die Treppe hinaufstampfte …
Nein. Etwas, das heiler war. Froher.
Dann hatte er es.
Im Sommer vor seinem Tod hatten Mark und Chloe mit Brendan eine Wanderung durch den Hocking Hills State Park gemacht. Vorsichtig waren sie in die kühlen Kalksteinrinnen hinabgeklettert, unter gewaltigen Überhängen entlang, die feuchten, zahnlosen Mündern glichen. Mark hatte Brendan immer wieder hochheben müssen, damit er die Erklärungstafeln vor den alten Erdrutschen und Sümpfen aus orangerotem Schlamm lesen konnte. An einer Stelle machte die Schlucht einen Knick, und dahinter stürzte ein dünner, kalter Wasserstrahl von einem Felsvorsprung zwanzig Meter höher hinab auf den durchtränkten Boden neben dem Pfad. Mark musste den strampelnden, sich windenden, kichernden Brendan am Gürtel festhalten, damit er sich nach hinten lehnen konnte, bis ihm das Wasser endlich auf die Stirn pladderte.
Später folgten sie einem Weg, der an einem tiefen Canyon entlangführte. Hier und da wichen die Robinien, Kletterranken und hohen Gräser flachen Felsplatten, die über die Hangkante hinausragten. Einen Zaun gab es nicht; man konnte bis ganz zum Rand eines dreißig Meter tiefen Felssturzes vorgehen.
Natürlich hatte Brendan hinunterschauen wollen; natürlich war Mark mit ihm bis zur Kante vorgegangen, eine Hand auf seiner Schulter. Er hatte das Zittern gespürt, mit dem Brendan in die Tiefe starrte.
Ganz schön unheimlich, flüsterte Brendan.
Mark verstärkte seinen Griff. Stimmt, sagte er. Komm, gehen wir.
Als Brendan sich umdrehte, rutschte er auf ein paar losen Kieseln aus und taumelte mit rudernden Armen rückwärts. Hinter ihnen gähnte der Abgrund. Chloe, die auf dem Weg geblieben war, schrie Marks Namen.
Mark reagierte sofort und bekam Brendans Hemdzipfel zu fassen. Dann ließ er sich aufs Gesäß fallen und zog den Jungen zu sich her. Brendan weinte. Mark, der sich das Steißbein bös angeschlagen hatte, hätte auch gern geweint, aber stattdessen drückte er Brendan fest an sich und flüsterte: Hab dich doch schon.
Auf dem Heimweg hielten sie bei einem Buffalo Wild Wings. Brendan hatte seinen Schrecken inzwischen verwunden und war jetzt ganz obenauf. Er erzählte dem jungen Mädchen, das ihre Bestellung aufnahm, gleich, was passiert war: Mein Dad hat mir das Leben gerettet!
Selbst wenn das stimmte, wollte Mark nicht länger darüber nachdenken. Er wollte nur dasitzen, sein Sandwich essen und seinem Sohn zuschauen, wie er wohlbehalten und munter mit seinen Chicken-Nuggets im Ketchup herumfuhrwerkte.
Der Schock holte ihn erst abends ein, als Brendan längst schlief. Es war wie eine Art Schüttelfrost. Er schenkte sich einen Whiskey ein und zeigte Chloe, die mit einem Buch am anderen Couchende saß, seine zitternden Finger.
Chloe lächelte. Nahm sie, und küsste sie.
Später schlich Mark sich in Brendans Zimmer und legte sich zu ihm aufs Bett, schmiegte sich vorsichtig an ihn. Brendan regte sich. Pscht, wisperte Mark und schob den Arm über die Taille des Jungen. Ich bin’s nur – Dad.
Lange Zeit lag er so wach. Er lauschte Brendans Atemzügen, den Schluck- und Murmelgeräuschen, die der Junge im Schlaf machte. Offenbar träumte er. Ein Traum, so dachte es Mark sich zurecht, in dem er frei von Angst war. Zu jedem Abenteuer
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