An einem Tag im Januar
bereit. Mutig sogar. Draufgängerisch.
Weil er wusste, sein Vater war bei ihm.
FÜNFUNDZWANZIG
Am nächsten Morgen wurden sie erst wach, als Chloes Telefon klingelte. Chloe fluchte, strampelte sich von der Bettdecke und Marks Armen frei und patschte zu ihrer Handtasche auf der Kommode hinüber, so nackt, so dünn. Als sie sich über das Handy beugte, warfen ihre Rückenwirbel Schatten. »Wahrscheinlich die Schule«, sagte sie zu ihm. »Sie wollen mir den Urlaub nicht geben. Wenn sie mir heute blöd kommen, kündige ich, tut mir leid.«
Sie starrte stirnrunzelnd auf die Nummer, dann meldete sie sich.
»Oh, hallo«, sagte sie gleich darauf und nahm Haltung an. »Äh. Ja. Moment.« Sie sah zu Mark hin. »Dein Vater.«
Das musste Lewis gewesen sein. Mark hatte ihn versetzt, und Lewis hatte seine Drohung wahrgemacht und Sam alarmiert. Mit einem Schlag hing der schöne Kokon, in den er sich mit Chloe eingesponnen hatte, in Fetzen. Er hätte auf die Wände eindreschen mögen.
Chloe drückte das Telefon an ihr Schlüsselbein. »Entschuldige – ich hab die Nummer nicht erkannt.«
»Ich komm schon«, sagte er. Was blieb ihm anderes übrig? Er war ertappt. Er rutschte zum Bettrand vor, so nackt wie Chloe, und nahm den Apparat. »Dad?«
»Marcus«, sagte sein Vater – beherrscht, aber Marks vollen Namen gebrauchte er nur, wenn er ernsthaft verstimmt war. »Endlich erreiche ich dich.«
»Hat Lewis dich angerufen?«
»Ich habe mit ihm gesprochen, ja. Er war ziemlich besorgt um dich. Ich offen gestanden auch. Ich gerate seit einem vollen Tag nur an deine Mailbox.« Das war mehr als nur Sams Professorenstimme, es war ein Blaffen, aggressiv, abgehackt.
Chloe setzte sich neben Mark, schlang die Arme um eins der Kissen und blickte ihn darüber hinweg an.
Mark sagte: »Tut mir leid, Dad. Ich war ein bisschen abgetaucht in letzter Zeit, aber es ist alles in Ordnung.«
»Sicher?«
»Ja.«
Das Schweigen zog sich hin. Mark langte hinüber und nahm Chloes kalte Hand.
»Mark«, sagte sein Vater. »Ich will mit offenen Karten spielen. Ich habe gehört, was – was hier vorgeht. Und es fällt mir nicht leicht zu glauben, dass du so etwas … mitmachst.«
Dann wusste Sam also Bescheid. »Es war alles ein bisschen viel auf einmal. Ich wusste nicht, was ich dir sagen soll.«
»Schon möglich«, sagte sein Vater. »Aber ich fürchte, ich habe etwas überstürzt reagiert.«
»Wie meinst du das?«
»Damit meine ich, dass ich von einer Tankstelle an der I-70 anrufe, bei Springfield. Ich brauche noch etwa eine Stunde bis zu eurem Haus. Ich möchte gern, dass du auch kommst.«
Mark warf einen Blick zum Fenster, auf die wohl fünfzehn Zentimeter Neuschnee, mit denen die Äste dort beladen waren. »In dem Wetter bist du gefahren?«
Chloe drückte sich die Hand an den Mund und begann sich eilig anzuziehen.
»Wie gesagt, ich mache mir Sorgen. Wirst du da sein?«
»Dad. Heute passt es ganz schlecht …«
»Ich kann auch gern bei Chloe vorbeikommen, wenn dir das lieber ist. Ich habe ihre Adresse dabei.«
Er saß in der Falle. Schließlich konnte er seinem Vater schlecht befehlen umzudrehen und wieder nach Hause zu fahren, oder?
»Also gut«, sagte er. »Gut. Treffen wir uns bei mir. Es könnte allerdings ein Weilchen dauern, bis ich da bin.«
»Ich kann ja schon reingehen«, sagte sein Vater. Was stimmte; er hatte einen Schlüssel. Er klang jetzt ruhiger, aber auch – Mark hörte es deutlich – resignierter als zuvor. Seine schlimmsten Befürchtungen hatten sich bestätigt.
Als Mark auflegte und Chloe Bericht erstattete, reagierte sie gelassen. »Früher oder später hätten wir es ihm sowieso sagen müssen«, meinte sie. »Es wird schon werden. Er ist dein Vater, nicht der böse schwarze Mann.«
»Er wird es alles für Irrsinn halten«, sagte Mark. »Mir wäre es lieber, ich müsste nicht mit ihm diskutieren. Nicht ausgerechnet heute.«
Denn heute war der Jahrestag, Brendans siebter Todestag. Der Tag, an dem sie sich in ihrem alten Haus mit den Weills treffen würden, all ihre Erinnerungen im Gepäck. Der Tag, an dem sie Brendan heimschicken würden.
Chloe legte ihm die Hände an die Wangen und küsste ihn, fest. »Wir haben die Wahrheit auf unserer Seite«, sagte sie. »Es dauert, bis die Leute das begreifen.« Sie gab ihm noch einen Kuss. »Aber am Ende werden sie es.«
Sie machten sich rasch fertig, dann fuhr Chloe ihn zu seinem Auto. Unter dem Schnee waren die Straßen vereist; hier und da hielt ein Streifenwagen
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