An einem Tag im Januar
sagte: »Es wäre plausibel. Seine Eltern haben sich getrennt. Er wohnt alleine mit seiner Mutter in einem großen alten Haus. Er erfindet das nur.«
»Was denn sonst?« Allies Stirn war gefurcht, sie war immer noch empört. »Aber dass diese Frau – dass sie dir das so einfach ins Gesicht sagt! Am liebsten würde ich sie anzeigen.«
Mark musste daran denken, wie oft Chloe ausgezogen war, um irgendein Unrecht an Brendan zu rächen, eingebildet oder echt. Eine Löwin, die ihr Junges verteidigte. »Vielleicht ist Connie einfach … ich weiß nicht. Man will sein Kind natürlich beschützen. Wenn sie die Geschichte ernsthaft glaubt …«
Allies Blick war vernichtend. »Das ist keine Entschuldigung.«
»Das sage ich auch nicht. Aber als Eltern leidet man eben mit.«
Jetzt klang ihre Stimme gepresst. »Das kannst du besser beurteilen als ich.«
Seit der Verlobungsnacht hatten sie nicht mehr über das Thema Kinder gesprochen – nicht einmal, als Allisons Mutter in Marks Büro geschaut und gerufen hatte: Ach! Ideal für ein Kinderzimmer! Aber er hatte die Frage nicht bewusst gemieden, und auch jetzt hatte er Allie nicht ausgrenzen wollen. Er hatte nur an Brendan gedacht, an all die Male, wenn Brendan nachts aufgewacht war, weil irgendein Ungeheuer ihm Angst machte. An all die Male, die Mark selbst aus dem Schlaf geschreckt war, geweckt durch Brendans Weinen.
Allie fing an, die Arbeitsflächen blank zu wischen. »Meinst du, sie versucht es noch mal bei dir?«
»Sie war sogar schon hier, Allie.«
»Was?« Allison drehte sich zu ihm um. »Wann?«
Mark berichtete ihr von den Fußspuren an dem Morgen, an dem Connie ihn durchs Fenster des Coffee Shops beobachtet hatte.
»Ruf die Polizei«, sagte Allie.
»Ist das nicht etwas übertrieben?«
»Sie darf nicht noch mal hier aufkreuzen, Mark.«
»Nein. Aber – ich meine, was würde ich der Polizei denn überhaupt sagen?«
Der junge Polizist fiel ihm ein, der damals bei Brendans Sturz gekommen war, nur wenige Sekunden nach dem Notarzt. Ein Mann in Marks Alter, mit dünnem, rostrotem Haar. Er könne mit Mark hinter dem Rettungswagen her zum Krankenhaus fahren, sagte er und hielt ihn am Arm fest, als Mark die schmale Treppe hinauflaufen wollte. Mr Fife, sagte er, warten Sie, bis die Sanitäter fertig sind. Lassen Sie sie ihre Arbeit tun. Mark hörte die Männer oben auf dem Treppenabsatz, hörte ihre Funkgeräte knistern und krachen. Er konnte Brendans Fuß sehen, der über der obersten Stufe hervorstand, die Ferse halb aus dem schmutzigen Turnschuh gerutscht. Die Schnürsenkel offen.
Ich habe selber einen Sohn, hatte der Polizist gesagt, sein Griff wie ein Schraubstock.
Allison wiederholte ihre Frage von vorhin: »Was sollst du ihrer Meinung nach tun?«
Er hob abwehrend die Hände. »Ich muss wirklich aufhören, über dieser Sache zu brüten. In Ordnung?«
Allie sah ihn skeptisch an, dann gab sie sich geschlagen. »Okay. Okay. Soll ich uns einen Tee machen?«
Er wollte keinen, aber er nickte.
Allie setzte Wasser auf. Sie hängte zwei Teebeutel in zwei Tassen und ging nach oben, um ihren Schlafanzug anzuziehen. Mark blieb am Tisch sitzen.
Der kleine Junge, der hier mal gewohnt hat.
Allein schon das Wort. Geist.
Der Teekessel pfiff. Allie kam wieder und goss ihre Tassen voll. Zwischen ihren Händen stieg der Dampf auf.
Offenbar war ihm sein Zorn anzusehen, denn sie legte ihre Hand, die glühte von ihrer Tasse, auf sein Handgelenk. »Du glaubst doch wohl nicht an Geister. Oder?«
Natürlich nicht. Sein Vater war Atheist, und Marks Mutter war im weitesten Sinne Buddhistin gewesen. Wie in den meisten Fragen war Mark auch in dieser schon vor Langem zu dem Schluss gekommen, dass Sams Sicht der Dinge ihm vorzüglich taugte. Für ihn gab es weder Himmel noch Hölle noch Seelen – und wenn es keine Seelen gab, dann konnte es auch keine Geister geben, oder? Dann gab es kein wie auch immer geartetes Leben danach.
X-mal hatte er das seit Brendans Tod den Leuten erklären müssen – all diesen wohlmeinenden Verwandten und Freunden, die bei der Beerdigung zu ihm gesagt hatten: Er ist jetzt im Himmel. Oder: Er ist an einem besseren Ort. Wenn nicht sein Vater und Chloe neben ihm gestanden hätten, hätte er mit jedem Einzelnen eine Diskussion angefangen: Nein! Er ist weg. Er ist ganz und gar weg. Begreift ihr das nicht?
Er war etwas, und jetzt ist er nichts mehr .
Mit zugeschnürter Kehle trank Mark seinen restlichen Tee aus. »Mach dir keine Sorgen wegen mir.«
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher