An einem Tag im Januar
zurück; dennoch fragte er sich, wer von ihnen beiden verrückter war: der Mann, der vor den Stätten seines Kummers weglief, oder die Frau, die sich nicht von ihnen fernhalten konnte.
»Du bist nervös«, sagte Chloe, die ihn betrachtete.
»Das ist nicht einfach für mich«, sagte er. »Alles. Du, ich. Der Grund, aus dem wir hier sind.«
»Ich weiß. Glaub nicht, dass ich das nicht weiß. Ich habe es dir noch mal schwerer gemacht. Aber wenn du mich anhörst, wird es besser. Traust du mir wenigstens so weit?«
Ihr trauen? Wenn sie so redete, wollte er sie umarmen!
»Doch«, sagte er.
Chloe senkte den Blick, sah auf ihre Hände. Sammelte sich.
»Es ist schwer, den richtigen Anfang zu finden«, sagte sie. »Vielleicht sollte ich vorausschicken, dass es – dass nichts davon überraschend für mich kam. Nicht richtig. Ich meine, nicht im tiefsten Innern.« Sie sah immer noch nicht ihn an, sondern hinaus über den Fliesenboden, zur nächsten Palmengruppe. »Ich habe nie aufgehört, von Brendan zu träumen. Ich weiß, das ist normal. Oder was bei Leuten wie uns eben als normal angenommen wird. Meine Therapeuten haben mir alle Dinge gesagt wie: ›Verlustträume sind nichts Ungewöhnliches.‹« Chloe schüttelte den Kopf. »Von einer habe ich mir sogar anhören dürfen, dass Eltern wie … wie wir durchaus auch Halluzinationen haben können.«
Gayle hatte bei ihm nie von Halluzinationen gesprochen. Aber Mark hatte sich natürlich auch gehütet, ihr Anlass dazu zu geben.
»Alle haben immer gesagt, dass es besser werden würde«, sagte Chloe. »Dass ich nach vorn schauen muss, dass ich nach einer Weile mit meinem Leben weitermachen kann. Aber irgendwie wusste ich die ganze Zeit über, dass das nicht stimmt.« Jetzt hob sie den Blick. »Und es waren dermaßen plastische Träume.« Ihre Mundwinkel zogen sich herab. »Dass ich ihn irgendwo allein gelassen habe. Ihn in einer Menschenmenge verloren. Und dann, nachdem wir aus dem Haus ausgezogen waren … habe ich ständig geträumt, dass er noch dort ist. Dass er nach uns ruft.«
Marks Herz pumpte ihm Quecksilber durch die Adern statt Blut.
Sie sagte: »Ich … ich habe von Amputierten gelesen, die Phantomschmerzen haben. Ich denke manchmal, ich habe ein Phantom kind . Ich spüre immer wieder sein Gewicht – als ob er ein kleines Baby wäre, das ich auf der Hüfte halte. Ich rieche ihn.« Sie flüsterte jetzt fast: »Ein paarmal habe ich sogar gespürt, wie er bei mir trinkt.« Sie hob eine Hand in Richtung Brust, ließ sie dann rasch fallen. »Am schlimmsten war es in unserem alten Haus. Vor …«
Vor ihrem Auszug dort. Vor der Scheidung von ihm.
Chloe nickte kummervoll, als hätte er die Worte laut ausgesprochen.
»Das hat mich so wahnsinnig gemacht«, sagte sie. »Es war nicht einfach, dass ich traurig war – dass ich ihn vermisst oder um ihn getrauert habe. Sondern dass ich in meinem tiefsten Herzen nie das Gefühl hatte, dass er weg ist.«
Mark hätte ihr mit einem Satz antworten können, den Gayle ihm gesagt hatte und den Chloes sämtliche Therapeuten ihr im Zweifelsfall auch schon gesagt hatten: Das ist das Wesen der Trauer.
Chloe fuhr fort: »Nach dem, was seither passiert ist … glaube ich, dass ich Brendan damals tatsächlich gespürt habe, bei uns im Haus.« Sie sah zu ihm auf. »Es ergibt einen Sinn. Jetzt.«
»Erzähl’s mir«, sagte er.
Vor ihnen wimmelten die Besucher durcheinander. Ein einsamer, pferdegeschwänzter Mann mit Kamera, der kniend das durch die Palmwedel gefilterte Sonnenlicht fotografierte. Eltern, allein oder paarweise. Großeltern. Kinder. O-beinige Zweijährige, Babys in Kinderwägen, kleine Jungen.
Chloe sagte: »Es ist so, wie ich in meinem Brief geschrieben habe. Connie hat mich zu sich eingeladen. Ich habe mit ihr und mit ihrem Sohn – Jacob – über ihre Erlebnisse geredet. Und dann haben sie mich allein gelassen. Eine Stunde oder zwei.
Ich bin raufgegangen und habe mich in das Zimmer gesetzt, in dem er ihnen … erschienen ist. Brendans altes Zimmer.« Sie sah ihn vielsagend von der Seite an. »An diesem ersten Abend hatte ich ein paar Sachen von ihm dabei – Bilder, ein paar Kleider. Als ich allein war, habe ich mich auf den Boden gesetzt – Jacob hat jetzt ein anderes Zimmer, das von Brendan ist leer –, und ich habe seine Bilder ausgebreitet. Und dann habe ich … ich hab mit ihm geredet. Ihm gesagt, wenn er wirklich da ist, dann kann er jetzt zu mir kommen. Ich habe ihm gesagt, dass wir beide ihn vermissen
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