An einem Tag im Januar
schließlich hörte Jacob sie bei sich im Zimmer. Er drehte sich im Bett um und sah jemanden neben ihm stehen.
»Im Dunkeln?«, fragte Mark.
»Er sagt, es war wie ein Schatten zwischen ihm und dem Fenster. Aber in der Gestalt eines Jungen.«
Der Schatten eines Jungen im Fenster. Chloes Silhouette auf den Wohnzimmervorhängen. Das war es wieder, das Muster, immer deutlicher begann es sich abzuzeichnen.
Der Rest von Chloes Geschichte stimmte mit dem überein, was Connie Mark in der Buchhandlung erzählt hatte: Connie hatte nicht lockergelassen, bis Jacob mit der Sprache herausrückte. Connie und Jacob hatten seine Sachen aus dem Kinderzimmer in das freie Zimmer nebenan geräumt. Doch wenige Nächte darauf hörte Jacob die Stimme des Jungen wieder: durch die Wand, leise murmelnd, manchmal weinend. Und dann hatte ihn Jacob ganz laut rufen hören: Daddy!
Mark hielt seinen Blick stetig. »Hört er ihn immer noch? Seit du herkommst?«
»Seltener. Aber ich …« Sie stockte, als schämte sie sich.
»Was?«
»Ich habe ein paarmal dort übernachtet«, sagte sie. »Connie hat eine Cousine in Gahanna, bei der sie jetzt übers Wochenende wohnen können, und wenn sie weg sind, hüte ich das Haus.«
»Und es ist wieder passiert? Das, was du … deine Erfahrung?«
»Nicht jede Nacht«, sagte sie. »Aber in vielen. Und meine Träume sind anders geworden. Froher. Statt nach ihm zu suchen, finde ich ihn jetzt manchmal.«
Sie schloss die Augen, als würde jemand sie streicheln.
Er sagte: »Also gut. Angenommen, es läuft alles nach Plan. Ich gehe hin. Ich mache eine ähnliche Erfahrung. Was passiert dann?«
Chloe lächelte, aber es war ein schwaches, nervöses Lächeln. »Dann würden wir versuchen, ihm zu helfen.«
»Wie?«
Sie schöpfte Luft, wie um sich zu vergewissern, dass ihre Kraft auch ausreichte für das, was sie sagen musste. »Ich habe ziemlich viel recherchiert. Ich glaube, ich habe jemanden gefunden, der uns helfen kann. Sie heißt Trudy Weill. Sie … sie bezeichnet sich als Medium.«
Als er nicht antwortete, sagte sie: »Ich weiß schon, was du jetzt denkst. Aber wo soll ich denn sonst hingehen? Zur Polizei? Zu einem Priester?«
»Ich habe mir ein paar von diesen Leuten angeschaut«, sagte er. »Auf mich wirken sie alle wie Scharlatane.«
»Ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Ich habe mich überall erkundigt. Sie ist so seriös, wie sie nur sein kann.«
Und wie seriös war das?, hätte er gern gefragt. Hatte sie ein amtliches Gütesiegel? War sie vom Verbraucherschutz zertifiziert?
»Ich habe mich mit ihr getroffen«, sagte Chloe. »Ich habe mit ihr geredet. Ich habe mit Leuten geredet, denen sie geholfen hat. Und ich vertraue ihr. Sie ist nicht … nicht wie diese grässlichen Gestalten im Fernsehen. Sie ist einfach eine ganz normale Frau aus Michigan.«
Ein Medium. Mark stellte sich Kerzen vor, Schleiergewänder, Klopfgeräusche in den Wänden. Chloes Hand in seiner, im Dunkeln. Selbst als Junge in Jacob Pelhams Alter hatte Mark schon von den Tricks gelesen, mit denen man als Medium arbeitete.
»Und dieses Medium würde was genau machen?«
»Sie würde ins Haus kommen. Und mit ihm Kontakt aufzunehmen versuchen.«
»Warum tut sie’s dann nicht?«
»Sie sagt, sie braucht beide Eltern, damit es – dieses Ritual – gelingt. Sie sagt, da du … da er nach dir ruft, musst du auch dabei sein. Zusammen mit mir.«
Völliger Irrsinn. Dabei wäre er vor ein paar Minuten noch zu fast jedem Zugeständnis bereit gewesen.
»Mark«, sagte sie. »Einer der Gründe, warum ich dich so dringend erreichen wollte – wir haben eine Art Frist gesetzt bekommen. Von Trudy.« Chloe wurde rot. »Sie sagt, dass es gut wäre, wenn wir für ihren Besuch einen Tag wählen könnten, der eine Bedeutung hat. Für uns und für ihn. Und der nächste bedeutende Tag …«
Chloe musste ihren Satz nicht beenden. Brendans Todestag war der 23. Januar – nur vier Tage entfernt. Grundgütiger.
»Und was passiert dann? Sie kommt, wir sind da …?«
»Sie spricht mit ihm. Sie sagt ihm …«
Das Medium würde Brendan auffordern, heimzugehen. Sich zur Ruhe zu legen. Wo immer das war, was immer das hieß.
Chloe legte ihre Hand auf seine. »Mark.«
Sein Name, so weich wie Seide. Er hörte wieder Allison: Wir müssen miteinander reden.
»Lass mich darüber nachdenken.«
»Was gibt es da nachzudenken?«
»Chloe, ich glaube nicht an solches Zeug. Ich hab noch nie daran geglaubt. Mir fällt das alles nicht leicht.«
Ihre Augen
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