An einem Tag im Januar
die Lüftungsschlitze am Armaturenbrett gehalten. Vor dem Aufbruch hatte er noch einmal Chloes Brief gelesen. Die Dringlichkeit, die er gestern Abend empfunden hatte, war verpufft; vielleicht lag das an seinen Schuldgefühlen Allies wegen, aber er glaubte es nicht. Heute war er nervös, und er fürchtete sich ein wenig. Unser Sohn ist noch hier . Gestern hatte er sich von Chloes Brief packen lassen, von ihrer Stimme, ihren Glücksverheißungen. Heute Vormittag konnte er nur an den Rest ihres Briefs denken: an den Schattenjungen, der in seinen Träumen nach ihm rief.
Mit dem er damals, vor sechs Jahren, vielleicht hätte reden können. Der – wenn Chloe recht hatte – möglicherweise die ganze Zeit über im Haus gewesen war.
Bitte glaub mir .
Mark stieg aus, klappte den Kragen hoch und stapfte zum Eingang hinüber.
Das Gewächshaus war immer einer seiner Lieblingsorte gewesen mit seiner Großzügigkeit, seiner Eleganz. Das Hauptgebäude war nur zehn Jahre vor dem Haus in der Locust Avenue erbaut worden, 1895, nach dem Vorbild der Weltausstellungshallen in Chicago: ein gewaltiges Gitterwerk aus Stahl und Glas mit hohen, gewölbten Decken und je einem Rundturm rechts und links. Ein Kristallpalast, der jetzt in der seltenen Wintersonne funkelte. Sämtliche Künstler, Fotografen und Designer der Stadt kamen hierher – genau wie Mark selbst früher –, um Bilder zu machen, sich inspirieren zu lassen. Und Eltern kamen mit ihren Kindern.
Unverändert offenbar. Kinder und Eltern strömten zu den Doppeltüren des Haupteingangs ein und aus wie der Atem des Gebäudes. Gerade die Kleineren fanden es herrlich hier – Brendan ja auch, wenn er mit Mark und Chloe da gewesen war. Stolzgeschwellt hatte er den Namen jeder Pflanze von ihrem Schild abgelesen. Er hatte die Fische geliebt, die Vögel, die riesigen Blüten. In einem Raum gab es sogar eine Modelleisenbahn; die Lokomotive schnaufte auf einem langen, raffiniert verschlungenen Gleissystem zwischen Baumstämmen und Stängeln hindurch, und Brendan hatte gebannt zugeschaut.
Auch daher rührte natürlich seine Angst, dachte Mark. Seit Brendans Tod hatte er das Gewächshaus konsequent gemieden – und schon jetzt drohte ihn der alte Schmerz zu übermannen.
Dennoch ging er weiter, durch die Eingangstür und hinein in die Hitze – diesen alten, vertrauten Geruch nach Feuchtigkeit und Blütenstaub, gemähtem Gras, Glukose – und zahlte seinen Eintritt.
Er stieg die breite Treppe hinauf, mit einem Bogen um die Faltblattverteiler, dann vorbei am Souvenirladen und durch einen Raum mit Reihen langer Tische entlang den Wänden, an denen freiwillige Helfer in Polohemden den Kindern beibrachten, ihre eigenen Sämlinge zu pflanzen. Mark schloss die Augen, und das hohe Stimmgewirr drang an sein Ohr wie Möwenrufe. Brendan hatte dort gestanden, wo diese Kinder nun standen, lachend, fasziniert, seine kleinen weißen Hände mit Erde beschmiert.
Hierhergekommen zu sein war ein Fehler.
Aber was bedeutete das Wort »Fehler« denn noch? Seit gestern Nacht, so kam es ihm vor, waren Kategorien wie Richtig oder Falsch nicht mehr relevant. Das Augenmerk der ganzen Welt richtete sich auf ihn, und alles folgte einem vorbestimmten Muster. Brief. Haus. Anruf. Schatten. Ja . Die Wörter schienen ihm – während er einen tropisch schwülen Kuppelsaal voll üppigem Blütengerank betrat – kurz davor, sich zu einem Code zusammenzufügen, der nicht weniger präzise durchstrukturiert war als das Gitterwerk hoch über seinem Kopf. Aber was war die Botschaft?
Den langen, zylindrischen Gang, den er jetzt entlangschritt, kannte er gut; hier umgab einen von allen Seiten die Vegetation des Himalaja. Kiefern. Wacholder. Hohe raschelnde Gräser. Rhododendron – ein Wort, das er Brendan auszusprechen gelehrt hatte, indem er seinen Finger unter den einzelnen Silben auf dem Schild verweilen ließ. Rho. Do. Den. Dron.
Ihm wurde heiß unter seinem Mantel. Er durchquerte einen Raum mit japanischen Pflanzen, zierlich gewölbten Holzbrücken, sanft gärenden Becken voller Kois, die so bunt leuchteten wie Murmeln. In dem zweistöckigen Palmenhaus setzte er sich auf eine Bank, um ihn herum mächtige Stämme in allen Größen, Farne wie Feuergarben. Zwei geschwungene Treppen führten hier von der Hauptgalerie hinab auf den gekachelten Boden des Atriums; von hier unten würde er Chloe, wenn sie kam, deutlich eher erspähen als sie ihn. Es war zehn vor zwölf. Seine Stirn und sein Hals waren
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