An einem Tag im Januar
gewacht. Er war erst wieder nach Hause zurückgekehrt, nachdem Mark sein Versprechen wahrgemacht und eine Therapie angefangen hatte.
Den Monat davor jedoch, unmittelbar nach seiner Rettung, hatte Mark bei ihm in Indiana gewohnt. Hier, im Haus seiner Kindheit, in seinem alten Bett, schien die Tatsache, dass er sieben Jahre lang Vater und noch länger Ehemann gewesen war, zu verblassen, an Realität zu verlieren. Manchmal kam es ihm allen Ernstes so vor, als sei er ein Halbwüchsiger, der aus Alpträumen von einer schrecklichen Zukunft erwachte. Dann wieder war er quälend er selbst – denn Sams Haus steckte voller Erinnerungen an alles Verlorene: Marks Mutter, Brendan, sogar Chloe.
Mark und Sam verbrachten jeden Abend zusammen. Manchmal unterhielten sie sich auf der Steinveranda, manchmal sahen sie im Wohnzimmer Baseball oder Football. Aber bei aller scheinbaren Behaglichkeit spürte Mark doch, dass sein Vater in Alarmbereitschaft war, ängstlich bemüht, ihm auch ja alles zu geben, was er brauchte.
Doch was brauchte Mark? Er wusste es nicht. Er war nüchtern, aber seine Träume von dem Haus, in dem er mit Chloe gewohnt hatte, blieben unvermindert nah, unvermindert sengend und schmerzhaft. Sie raubten ihm den Schlaf, sie folgten ihm durch seine langen, zermürbenden Tage. Die Welt ringsum schien ihm belanglos. Fadenscheinig, trügerisch.
Eines Abends sagte er: Dad, darf ich dich etwas fragen?
Sie saßen auf den Verandastufen und sahen hinaus auf den Wald und die frisch abgeernteten Felder jenseits der Straße, aufgewühltes Schwarz mit einem süßlichen Geruch nach Fäulnis und Dünger. Sein Vater legte sein Buch prompt zur Seite und wandte sich Mark zu.
Fragst du dich je, wo Brendan jetzt wohl ist?, fragte Mark.
Sein Vater lächelte eine Spur angestrengt. Wenn es einen Himmel gibt, sagte er, dann ist er bestimmt voller Kinder.
Aber du glaubst an keinen Himmel.
Sam streckte das Kreuz. Nein. Und eigentlich dachte ich immer, du auch nicht.
Nein. Aber jetzt – komme ich ins Grübeln.
Sams Ton überraschte ihn durch seine Milde: Wie könnte es auch anders sein?
Was denkst du also, was mit ihm passiert ist? Und Mark wagte sich noch weiter vor: Was glaubst du, was mit Mom passiert ist?
Mark, ich weiß es nicht. Frag einen Priester. Einen Philosophen. Frag einen Biologen.
Er hatte mit heftigerer Abwehr gerechnet. Sams Professorenstimme: Schalt dein Hirn ein, Mark .
Was die sagen würden, weiß ich, sagte Mark. Ich frage dich .
Sam seufzte.
Mark sagte: Wir können sie uns ja nur an irgendeinem Ort vorstellen, oder?
Sein Vater überlegte einen Moment, dann sagte er: Vorstellen findet im Kopf statt. Nicht mehr da sein heißt nicht zwingend, anderswo sein. Aber ja, wahrscheinlich stelle ich sie mir tatsächlich an einer Art Ort vor. In einem Nirgendwo, wo sie nicht an uns denken können. Was im Zweifel aufs Gleiche hinausläuft.
Sein Vater starrte auf das Feld hinaus. Mark sah wie zum ersten Mal, welch tiefe Furchen sich durch sein Gesicht gruben, wie scharf die Fingerknöchel hervorsprangen. Wie grau er geworden war. Er war dreiundfünfzig, näher am Tod als an der Geburt. Bald würde er ein alter Mann sein.
Wahrscheinlich will ich eigentlich wissen, ob du …
Aber er konnte nicht zu Ende sprechen. Sam übernahm es für ihn.
Du willst wissen, ob ich an ein Wiedersehen mit Molly glaube. Und mit Brendan.
Ja.
Ich glaube nicht daran. So gern ich es täte.
Die Enttäuschung schnürte Mark die Kehle zu.
Sam sah ihn von der Seite an. Ich stelle mir meinen Tod wirklich als Ende vor. Als eine Schwärze. Tiefsten Tiefschlaf. Traumlos.
Aber tröstet dich das?, fragte Mark.
Inzwischen ja. Sehr sogar.
Warum?
Sam wählte seine Worte sehr sorgfältig, als wären sie davongerollte Münzen, die er eine nach der anderen auflas:
Ich weiß nicht, was mein Leben für einen Sinn haben soll – über das hinaus, was ich hier vor mir sehe, meine ich. Ich tue mich einfach schwer mit der Vorstellung, dass ein Mensch stirbt und dann an einen Ort weitergeht, von dem aus er sich an sein Leben erinnert. Selbst wenn es der Himmel wäre. Selbst wenn der Tod ein Schlaf voller Träume wäre – durchweg glücklicher Träume. Dann würde ich von Molly und von dir träumen und von meinem Bruder. Von Brendan. Meinem Beruf. Meinem Haus. Allem, was ich zurückgelassen habe.
Mark wusste keine Erwiderung.
Sein Vater sagte: Und wenn ich heute Nacht sterben würde und mich im Himmel mit deiner Mutter und Brendan wiedervereint fände,
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