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An einem Tag im Januar

An einem Tag im Januar

Titel: An einem Tag im Januar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Coake
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dann würdest du mir abgehen. Es würde mir abgehen, hier auf der Veranda zu sitzen und mit meinem Sohn zu reden. Also frage ich mich: Wenn das so ist, wäre der Himmel dann wirklich der Himmel?
    Mark schloss die Augen.
    Der einzig glückliche Tod, den ich mir denken kann, fuhr sein Vater fort, ist ein Tod, der einen endgültigen Schlussstrich zieht. Mich auslöscht. Alles andere erschiene mir zu grausam. Für mich und für die Lebenden.
    Sein Vater trank einen Schluck von seinem Tee.
    Das ist das, was mich tröstet.
    Mark legte Sam die Hand auf die Schulter, und Sam schob seine darüber. Vielleicht hatte sein Vater ja recht, aber wenn Mark jetzt und hier hätte wählen dürfen, wäre er vermutlich zufrieden gewesen, die Zeit anzuhalten und diesen Augenblick als Himmel zu nehmen.
    Mich auch, sagte er.
    Das Muster wucherte wild, es war jetzt zu verzweigt, mit zu vielen Variablen. Entweder gab es ein Leben nach dem Tod, oder es gab keins; entweder waren Geister eine Realität, oder sie waren es nicht. Entweder hielt Mark morgen seine Verabredung mit Chloe ein oder die mit Allison. Entweder litt sein Sohn, oder er litt nicht. Entweder war Brendan ein Geist, oder er war keiner. Entweder wollte er, dass Mark zu ihm kam, oder er wollte es nicht. Sein Sohn war entweder auf dieser Erde gefangen oder schon lange in irgendeinem Jenseits, oder er war ausgelöscht.
    So viele Möglichkeiten, die sich hier vor ihm ausbreiteten. Und für jede schien ein anderer Mensch erforderlich.
    Welcher dieser Menschen war er also?
    Bitte glaub mir, hatte Chloe gesagt – ihre Stimme klingend vor Verheißung.
    Mark klappte sein Handy auf; auf dem Display erschien ein Foto von Allison. Allison an Halloween, als Dorothy aus dem Zauberer von Oz verkleidet, mit schlichtem Pferdeschwanz, blauem Baumwollkleidchen und roten Ballerinas. In der Hand einen Korb mit einem Stoffhund darin.
    Mark war als der Feige Löwe gegangen.
    Aus irgendeinem entlegenen Winkel seines Innern drang eine Stimme, hämisch, mit einer verächtlichen Brüchigkeit darin, Kinder auf dem Schulhof:
    Du checkst das nie. Und weißt du, warum?
    Weil du ein Weichei bist!
    Und da kam ihm die Lösung. Plötzlich, überdeutlich, zwingend:
    Er brauchte nicht bis morgen zu warten. Er konnte es noch heute Nacht herausfinden. Jetzt sofort!
    In ihrem alten Haus in der Locust Avenue war momentan niemand. Das hatte Chloe gesagt, oder? Die Pelhams übernachteten bei Verwandten, und Chloe war bei ihren Eltern. Mark – vorausgesetzt, er schaffte es, zur Abwechslung kein verdammtes Weichei zu sein – konnte ins Victorian Village fahren und sich mit eigenen Augen überzeugen. Und er konnte es tun, ohne dass Chloe bei ihm war. Ihn berührte. Ihn manipulierte.
    Er konnte herausfinden, was er eigentlich wollte. Was eigentlich von ihm gewollt wurde.
    Mit klopfendem Herzen setzte Mark sich auf. Er sagte sich, dass er getrunken hatte. Er sagte sich, dass Menschen, die getrunken hatten, oft auf sehr unkluge Ideen verfielen.
    Er sagte sich, dass in den Geistergeschichten seiner Kindheit ein Mann wie er – betrunken, fahrlässig – fast sicher am Fuß der Treppe landen würde, mit gebrochenem Genick und eingedrückter Schädeldecke wie sein Sohn. Dann wäre er dazu verdammt, in dem toten grauen Haus zu spuken, durch die Gänge zu wabern als Gefährte seines irren kleinen Kindes. Aus Lebenden wurden Tote. Er wusste, wie Lews Warnung gemeint war.
    Aber jetzt hatte Mark einen Plan . Nach all diesen Wochen konnte er endlich einmal handeln. Und wie schwer konnte es sein, in sein Haus einzubrechen? Im schlimmsten Fall wäre eine Scheibe eingeschlagen, und im besten …
    Im besten erhielt er Gewissheit. Das Muster, das begriff er nun, wies schon viel länger in die Richtung, als er geahnt hatte, vielleicht ja schon seit seinem letzten Mal dort, dieser langen, einsamen Woche vor all den Jahren …
    Er musste in das Haus, und er musste allein hin.
    Im Licht seines aufgeklappten Handys kritzelte er Lew eine rasche Nachricht auf den Block auf dem Küchentisch: Konnte nicht schlafen. Melde mich morgen. Danke für alles, und mach dir keine Sorgen, M. Dann zog er sich leise seine Schuhe und den Mantel an.
    Ein Taxi wäre das einzig Vernünftige, dachte er – aber er konnte sich ja schlecht von einem Taxi vor dem Haus absetzen lassen, in das er einzubrechen gedachte. Nein. Wenn er langsam fuhr, wenn er die Hauptstraßen mied, würde er schon klarkommen. Sein Plan schärfte seine Konzentration, machte seine Bewegungen

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