Ana Veloso
bewies, dass er ein Gehirn hatte, während
die anderen Schwarzen ihm die vermeintlich vornehme Arbeit missgönnten.
Permanent zogen ihn seine Nachbarn in Quintino, einem Hüttendorf im Nordwesten
der Stadt, damit auf, dass er verweichlichte, dass seine Muskeln bereits
abschlafften, dass seine Füße nicht mehr zum Barfußgehen zu gebrauchen waren
und dass er in den Kleidern eines Kontorangestellten aussah wie eine Witzfigur.
Nichts davon war wahr, aber es verletzte ihn. Wäre Fernanda nicht gewesen, die
ebenfalls in seinem morro, dem Armenviertel am Berghang, lebte und die
mit ähnlichen Vorurteilen zu kämpfen hatte, hätte Felix sich längst gefügt und
das getan, was alle von ihm erwarteten. Er hätte eine Arbeit angenommen, die
viel Schweiß und wenig Grips kostete, er hätte sich allabendlich betrunken und
so vielen Frauen wie möglich Kinder gemacht.
Gott sei Dank war nun León wieder da. Das
Durchhalten fiele Felix leichter, wenn es außer Fernanda noch jemand
honorierte. Nur ein Wort der Anerkennung oder des Lobes von León würde all die
Qualen und Demütigungen wettmachen. Und wer weiß, vielleicht hatte sein Idol ja
sogar eine Möglichkeit, ihn in einer anderen Firma unterzubringen, irgendwo, wo
er in Frieden gelassen wurde, wo er vielleicht nicht der einzige Schwarze war
und wo man ihn nach seinen Leistungen bewertete. Es gab schließlich noch andere
Männer, denen es ähnlich gehen musste wie ihm: uneheliche Mischlinge von
blassbrauner bis mittelbrauner Haut, die von den weißen Vätern als Söhne
anerkannt worden waren und die ein gewisses Maß an Bildung genossen hatten;
Alte, die sich nach der Einführung eines umstrittenen Gesetzes, wonach allen
Sklaven nach Vollendung des sechzigsten Lebensjahres die Freiheit geschenkt
werden sollte, ein kleines Geschäft aufgebaut hatten; Schwarze, die in
katholischen Waisenhäusern mit den Grundrechenarten und dem Alphabet vertraut
gemacht worden waren; oder auch solche wie ihn selber, denen es aus eigener
Kraft und mit ein wenig Glück gelungen war, in der Freiheit zu bestehen. Aber
wo steckten sie nur? Felix wusste, dass es Poeten, Händler, Musiker, Beamte,
Zugführer, Bankangestellte und Journalisten afrikanischer Abstammung gab – aber
er kannte nicht einen davon.
Er fühlte sich mutterseelenallein auf der Welt,
einsamer noch, als er es auf Esperanca je gewesen war. Jesus, wie hatte er sich
nur von dort wegwünschen können? Erst jetzt war ihm klar, was er trotz aller
Entbehrungen und Anfeindungen für eine schöne Zeit auf der Flüchtlingsfazenda
verbracht hatte, eine Zeit, die unbelastet war von den ökonomischen Zwängen,
die ihn Rio von seiner hässlichsten Seite erleben ließen, die unbeschwert war
von dem täglichen Kampf ums Überleben und in der er sich noch als etwas
Besonderes hatte fühlen dürfen.
Esperanca, als deren Eigentümer die Azevedos
auftraten, weil León sie dafür fürstlich honorierte, hatte beträchtlichen
Gewinn abgeworfen. Auch die Fazenda in Südbrasilien, die León von seinem Vater
geerbt hatte und deren Leitung er einem Verwalter übertragen hatte, florierte.
León war, mit gerade einmal neunundzwanzig Jahren, reich. Während seines
Europaaufenthaltes hatte er außerdem genügend Ruhm erlangt, um für seine
Zeitungsartikel mindestens das Doppelte dessen einzustreichen, was man ihm
vorher bezahlt hatte, und als Schützling der Prinzessin Isabel würde er keinen
Mangel an Aufträgen haben.
Er war endlich in der Position, sich aus seiner
Abhängigkeit vom »Jornal do Commércio« zu befreien und für andere Blätter
schreiben zu können. Der Chefredakteur hatte Leóns diesbezüglichen Wunsch immer
energisch zurückgewiesen, aber jetzt würde er es nolens volens hinnehmen müssen,
wollte er seine berühmte Edelfeder nicht vollends verlieren. Von der »Gazeta
Mercantil«, dem »Jornal do Brasil« und der »Folha de São Paulo« lagen León
bereits Anfragen vor. Aber darüber wollte er nicht jetzt entscheiden. Viel
wichtiger war im Augenblick, dass er sich Gedanken über seine Vorgehensweise in
einer ganz anderen Sache machte.
Auf seinem Schreibtisch herrschte ein
unbeschreibliches Chaos, nachdem er sich stundenlang durch die Papiere gequält
hatte. Doch es kümmerte León nicht. Er streckte sich zufrieden in seinem
Drehstuhl und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Ja, er wusste noch nicht
genau, wie er es anstellen sollte, aber dass es geschehen würde, stand fest.
Diesmal würde er endlich das tun, was ihm seine Lage vor
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