Ana Veloso
wie
England konnte durch ein paar billige Sanktionen mehr erreichen als drei
Millionen Schwarze, denen man das Denken und das selbstverantwortliche Handeln
aberzogen hatte. In Frankreich war die Empörung der Oberschicht über ein Land,
in dem noch die Sklaverei herrschte, nicht sehr ausgeprägt. Ausgerechnet hier,
in der Wiege des modernen abendländischen Verständnisses von Menschen- und Bürgerrechten,
interessierte man sich wenig für das ferne Brasilien und noch viel weniger für
die Schwarzen. Wofür man hier echte Leidenschaft aufbrachte, das waren die
leiblichen Genüsse. Spitzenköche wurden wie Götter verehrt, ihre Lokale mit
mehr Verzückung besucht als eine Messe. Zugegeben, auch León geriet angesichts
der Köstlichkeiten, die Köche wie der legendäre Escoffier oder Philéas Gilbert
zuzubereiten wussten, ins Schwelgen, auch er konnte einer getrüffelten Gänseleber,
zu der ein schwerer Château d'Yquem gereicht wurde, nicht widerstehen. Doch er
vergaß nie, wo er seine Prioritäten zu setzen hatte.
Die Pariser konnte er, das hatte er bereits nach
kurzer Zeit begriffen, nur mit ihren eigenen Mitteln schlagen. Wann immer er
mit Leuten zusammentraf, in Kaffeehäusern oder in deren Wohnungen, hatte er
ihnen in den lebhaftesten Farben die Qualen geschildert, die der Kaffeepflücker
oder der Zuckerrohrschneider auszustehen hatte, damit die Europäer sich in
ihren gemütlichen Salons dem zweifelhaften Genuss dieser Importgüter hingeben
konnten. All das hatte nicht viel genützt. Stattdessen war ihm durch seine
feurigen Reden die Aufmerksamkeit der Damen zuteil geworden, die ihn, den
exotischen und überaus attraktiven Mann aus diesem wilden Land, gern ihrer
Kollektion an Liebhabern einverleibt hätten. Manch einer gelang es sogar,
wenngleich León immer schon nach kurzer Zeit die Lust an der jeweiligen Dame
verlor.
Fast dreißig Jahre hatte er alt werden müssen,
um zu erfahren, was Liebe bedeutete. Mit Haut und Haar war er Vita verfallen.
Keiner anderen Frau gelang es, ihn so zu verwirren, ihn so zu verhexen, wie
dieses Zauberwesen in der fernen Heimat. Sicher, in Europa gab es Schönheiten,
die ebenfalls rabenschwarzes Haar und helle Augen hatten, die wohlgeformte Körper
und samtweiche, schneeweiße Haut besaßen, die mit Kussmündern und rosigen
Wangen lockten. Aber was waren diese Versuchungen wert, wenn hinter der hübschen
Fassade kein Funken Verstand, kein bisschen Mut oder auch nur der geringste
Stolz saßen? Wie hatte er jemals Frauen begehren können, die weniger arrogant
waren und weniger Schneid besaßen als Vita?
Was würde dieses Mädchen eines Tages für eine
Frau sein! Er sah sie schon vor sich, wenn jugendliche Verunsicherung dem
Selbstverständnis einer erwachsenen Frau gewichen wäre, wenn kindliche
Rebellion von kühler Logik abgelöst worden wäre und verschämtes Turteln von heißer
Begierde. Allein beim Gedanken an Vitas Haaransatz, der in der Mitte der Stirn
spitz zulief, und an den kleinen Leberfleck, der ihr Kinn zierte, wurde León
von schmerzhafter Sehnsucht erfüllt. Und die Erinnerung an die beiden Grübchen über
ihren strammen Pobacken, an den erstaunten und zugleich entrückten Ausdruck
ihres Gesichts sowie an das schmatzende Geräusch, mit dem sich ihre schweißglänzende,
heiße Haut von seiner gelöst hatte, jagte León heiße Schauer der Wollust über
den ganzen Körper. Gott, seine Sinhazinha war für die Liebe geschaffen – und er
würde sie ihr geben.
Dass sie nicht einen einzigen seiner zahlreichen
Briefe beantwortet hatte, schmälerte seine Liebe nicht im Geringsten – und
beunruhigte ihn auch nicht sonderlich. Er wusste, dass sie ihm böse war, weil
er so unvermittelt diese Reise angetreten hatte. Er wusste aber auch, dass sie,
wäre er geblieben, ihn früher oder später in die Reihe ihrer Verehrer
eingegliedert hätte, die einzig dem Zweck dienten, ihr zu huldigen – nur um
ihn, wenn ihre Eitelkeit befriedigt war, auszumustern. Wenn ihre Verbindung
Bestand haben sollte, wenn er sich ihre Nähe dauerhaft sichern wollte, dann
musste er sich paradoxerweise zunächst von ihr entfernen. Und ging es ihm
selbst nicht genauso?
Die Zeit seiner Abwesenheit würde ihnen beide
zugute kommen. Sie würde reifen, sie wäre erwachsener, klüger und sinnlicher.
Unterdessen setzte er alles daran, auch vor den Augen der konservativen
Gesellschaft als ihr Mann bestehen zu können. Und es war ihm gelungen: Sein
Name war in Europa berühmt geworden – und erst dadurch auch
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