Ana Veloso
die Türen und sah in den einzelnen
Kammern nach. In ihrer Eile vergaß sie dabei, vorher anzuklopfen, obwohl sie León
hoch und heilig hatte versprechen müssen, die Schwarzen fortan wie Angestellte
mit einem Recht auf Privatsphäre zu behandeln. Die erste Kammer wurde eindeutig
von Männern bewohnt, es lagen ein paar Hosen sowie Rasierzeug herum. Wie
dunkel, stickig und muffig es hier war! Vitória schloss schnell wieder die Tür
hinter sich und lief zum angrenzenden Raum.
»Oh, eh ...« Vitória sah sich der Köchin gegenüber,
die gerade im Begriff war, sich umzuziehen.
»Sinhá Vitória«, rief die Frau und hielt die Bluse
schützend vor ihren Oberkörper. »Ist etwas Schlimmes passiert?«
Anscheinend hatte die Frau Vitórias
Gesichtsausdruck falsch gedeutet.
»Ähm, nein. Das heißt, ich suche dringend
Isaura. Wo finde ich sie?«
»Von hier aus die zweite Kammer auf der linken
Seite. Aber ich glaube nicht ...« Die Köchin verstummte und hob fassungslos die
Schultern. Vitória hatte den Raum ebenso schnell verlassen, wie sie ihn
betreten hatte, und die alte Frau war sich nicht sicher, ob sie den ganzen
Vorfall nicht nur geträumt hatte.
Vitória rannte weiter und riss ungeduldig die Tür
von Isauras Kammer auf. Es war niemand da. Zwei einfache Betten standen je
rechts und links der Tür, beide ordentlich bezogen. Vor dem Fenster befanden sich
zwei Stühle und ein abgenutzter Holztisch. Ein angeschlagenes Weinglas – das
Vitória erst kürzlich aussortiert hatte, weil es beim Transport von Boavista
nach Rio Schaden genommen hatte – diente als Vase für ein paar Zweige und Gräser.
Es lagen weder Kleider noch andere Dinge herum, Isaura und die andere
Bewohnerin mussten ihre Habseligkeiten im Schrank verstaut haben, der gleich
neben der Tür stand. Ob sie einfach nachsehen sollte, ob der Anhänger sich
darin befand? Nein, das ging entschieden zu weit.
Der Raum in seiner aufgeräumten Schlichtheit rührte
sie. Vitória trat ans Fenster, öffnete es und sah hinunter in den Hof. Diese
Aussicht aus ihrem neuen Haus war ihr so gut wie unbekannt – die Wohnräume
lagen zur Straße hin, und ihr Schlafzimmer befand sich an der linken Seite des
Hauses, mit Blick auf den kleinen Park des Nachbargrundstücks. Auf der Rückseite
des Hauses lagen nur die Küche und andere Arbeitsräume, die Dienstbotenzimmer
sowie die Bäder, von denen sich eines direkt an Vitórias Zimmer anschloss. Doch
immer, wenn sich Vitória im Badezimmer aufhielt, schloss sie die Vorhänge, ohne
den Hinterhof eines Blickes zu würdigen. Aus gutem Grund, wie sie jetzt
feststellte: Er lag vollständig im Schatten, war zugestellt mit allem möglichen
Gerät und Gerümpel und war aufgrund der Nähe zum Nachbargebäude beklemmend eng.
Der Hof erinnerte in nichts an die leichte Eleganz des Hauses. Dennoch schien
er von den Dienstboten auch in deren Freizeit genutzt zu werden. Eine grob
gezimmerte Bank sowie ein welker Christstern in einem alten Topf zeugten von
dem fruchtlosen Versuch, dem Ort eine freundlichere Atmosphäre zu verleihen.
Ein Mädchen in frisch gestärkter Bluse und
langem Rock huschte durch den Hof. Obwohl Vitória von ihrem Kopf nicht mehr als
die weiße Haube sehen konnte, war sie sich sicher, dass es sich nicht um Isaura
handelte. Einen Augenblick war sie versucht, das Mädchen zu rufen und nach
Isauras Verbleib zu befragen. Doch dann entdeckte sie den jungen Mann, der an
dem Gatter zur Straße auf das Mädchen wartete. Er verbeugte sich tief vor der
Schwarzen, die Vitória jetzt als die Küchenhilfe identifizierte. Vitória war
fasziniert von der Szene. Sie hörte das Lachen des Mädchens bis hier herauf,
und obwohl sie ihr Gesicht nicht sah, konnte sie sich lebhaft die Pausbacken
und das krumme Gebiss vorstellen. Wenn das Mädchen, dessen Name Vitória partout
nicht einfallen wollte, lachte oder auch nur lächelte, strahlte sie eine so
ehrliche Fröhlichkeit aus, dass sie immer alle ansteckte. Kein Wunder, dass der
junge Mann dort unten ebenfalls die Lippen zu einem breiten Lächeln verzog. Er
erinnerte Vitória an irgendjemanden, aber sie konnte sich nicht erinnern, an
wen. Zudem erkannte sie, ohne ihre Brille, die Gesichtszüge des Mannes nicht
genau.
Hübsch anzusehen waren sie, die beiden jungen
Schwarzen. Als der Mann seinen Arm um die Taille der jungen Frau legte, wand
sie sich ihm mit einem weiteren Lachen. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr, wobei
sie ihn so zärtlich am Ärmel zupfte, dass es Vitória einen Stich
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