Ana Veloso
versetzte. Ob
es ihr je gelingen würde, mit León einen Umgang zu pflegen, der von so viel
Harmonie, Intimität und Freundschaftlichkeit geprägt war wie bei diesem Paar
dort unten? Die beiden Schwarzen schlenderten gemütlich davon. Vitória sah
ihnen nach, in einer Mischung aus Neid und Wohlwollen. Doch als der Mann plötzlich
anfing, heftig zu gestikulieren, wurde Vitória stutzig. Das war doch ... nein,
das konnte nicht sein!
»Félix?«, rief sie aus dem Fenster.
Der Mann blieb stehen, drehte sich und sah zu
ihr hin. Als sich ihre Blicke trafen, wusste Vitória, trotz der Entfernung,
dass ihre Vermutung richtig gewesen war. Groß war er geworden, und mit seiner
albernen Perücke war er kaum wiederzuerkennen. Aber sein Lächeln und seine Körpersprache
hatten Félix verraten. Er drehte sich sofort wieder um, griff nach der Hand
seiner Begleiterin und lief mit ihr gemeinsam davon.
Vitória ließ sich so plump auf den Stuhl fallen,
dass die Gräser in der improvisierten Blumenvase von der Erschütterung
zitterten. Vitória glaubte nicht an Zufälle – sie hielt es für höchst
unwahrscheinlich, dass sich das Mädchen und Félix auf dem Markt oder bei einem
Fest kennen gelernt hatten, nicht in einer so großen Stadt wie Rio de Janeiro
und nicht angesichts der Tatsache, dass die beiden mindestens einen gemeinsamen
Bekannten hatten: León. Das Mädchen stand bereits seit rund drei Jahren in Leóns
Diensten, und Félix hatte León auf Boavista kennen gelernt. Wenn also Félix mit
einer von Leóns Angestellten ausging, konnte das nur bedeuten, dass er Kontakt
zu León hatte. Und das wiederum ließ nur einen Schluss zu: León musste von Félix'
Flucht erfahren und den Jungen gedeckt haben. Dieser Mistkerl!
Vitória raffte ihren Rock, rauschte aus dem
kleinen Dienstbotenzimmer und war wild entschlossen, ihren Mann augenblicklich
zur Rede zu stellen. Kurz bevor sie sein Arbeitszimmer erreichte, kam ihr ein
weiterer Gedanke. Was, wenn León nicht passiver Mitwisser von Félix' Flucht
gewesen war, sondern deren Drahtzieher?
Der Fluchthelfer? Aber ja, all die Bruchstücke,
die vorher keinen Sinn gemacht hatten, fügten sich plötzlich zu einem stimmigen
Ganzen. Die Tatsache, dass Félix trotz seiner Jugend und der Stummheit, die ihn
brandmarkte, nie gefunden worden war; Leóns sonderbare Geschäftsreisen, die ihn
immer wieder aufs Land führten, wo er angeblich Reden halten und wichtige Persönlichkeiten
treffen musste; die unerklärliche Ergebenheit seines Personals León gegenüber –
das alles erklärte sich nur vor diesem ungeheuerlichen Hintergrund. León war
ein Sklavenbefreier. Und zwar einer, der in großem Stil handelte. Dass León
sich mit Worten für die Schwarzen stark machte, war eine Sache. Aber dass er
seine Überzeugungen auch durch kriminelle Handlungen vertrat, war eine ganz
andere. Vitória war von der plötzlichen Erkenntnis so aufgebracht, dass ihr das
Herz bis zum Hals schlug. Nur gut, dass sie weder Isaura noch das Schmuckstück
gefunden hatte.
»Du Dieb! Du elender, verlogener,
verbrecherischer Schuft!« Vitória schrie ihre Wut in demselben Augenblick
heraus, in dem sie die Tür des Arbeitszimmers aufriss. Erst danach bemerkte
sie, dass León nicht allein war. Ihm gegenüber saß eine ältere Frau mit
unverkennbar indianischen Zügen. León reichte der Frau ein Taschentuch, mit dem
sie sich die roten Augen abtupfte.
»Wer auch immer du bist, was auch immer du für
Sorgen hast, gute Frau, lass uns jetzt einen Augenblick allein. Ich muss mit
meinem Mann unter vier Augen reden.« Vitória hatte die Besucherin instinktiv
geduzt, so wie sie es mit allen Farbigen machte. Doch als die Frau aufstand und
ihr Kleid zurechtstrich, bemerkte Vitória, dass es sich nicht um eine gewöhnliche
Sklavin handelte. Sie trug Schuhe, ihre Garderobe war von guter Qualität, ihre
Haltung die einer Herrin. Ob es sich vielleicht um die ehemalige Mätresse eines
Senhors handelte? Die Frau war trotz ihres Alters eine Schönheit.
»Ich bin froh, dass wir uns endlich kennen
lernen, mein Kind«, sagte sie und streckte Vitória die Hand zum Gruß hin.
»Wie ich schon sagte: Ich muss jetzt mit meinem
Mann allein sein. Unser Kennenlernen, wenn es sich denn gar nicht vermeiden lâsst«,
dabei warf Vitória León einen giftigen Blick zu, »muss warten. Und untersteh
dich, mich noch einmal > mein Kind < zu nennen.«
Die Frau nahm ihre Hand zurück und wandte sich
wieder León zu. »Ich hätte dir eine bessere Wahl zugetraut.
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