Ana Veloso
bin sehr gespannt. Und León,
ich schlage vor, du überlässt deiner Mutter das Reden. Aus deinem Mund habe ich
bisher nie etwas anderes als Lügen gehört.«
Das hatte León ohnehin vorgehabt. Er hatte den
beiden Frauen seinen Rücken zugewandt, nippte gelegentlich an seinem Whiskey
und blickte gedankenverloren aus dem Fenster.
Dona Doralice sah besorgt zu ihrem Sohn hinüber,
wandte sich aber sofort wieder Vitória zu. Sie straffte ihren Rücken und holte
tief Luft.
»Leóns Vater war ein sehr reicher Mann. Und ein
sehr einsamer.« Sie nahm einen Schluck von ihrem Cognac, als müsse sie sich für
ihre Erzählung Mut antrinken.
Vitória hatte keine Ahnung, warum Dona Doralice
so weit ausholte, aber sie ließ sie gewähren. Endlich würde sie etwas mehr über
Leóns Vergangenheit erfahren, Antworten auf Fragen erhalten, denen er immer
ausgewichen war.
»José Castro e Lenha war ein sehr erfolgreicher
Viehzüchter. Seine Farm war und ist bis heute die größte der Region Chuí, an
der Grenze zu Uruguay. Er war einer der wenigen Fazendeiros, die die
Grenzkriege zwischen Brasilien und Uruguay unbeschadet überstanden haben, denn
er war halb spanischer, halb portugiesischer Abstammung und zudem mit großem
diplomatischem Geschick gesegnet. Er heiratete eine Brasilianerin, doch die Ehe
war nicht glücklich. Nachdem Dona Juliana ihrem Mann drei Töchter geschenkt und
damit ihrer ehelichen Pflicht Genüge getan hatte, wandte sie sich der Kirche
zu. Senhor José suchte Trost bei mir. Ich glaube, dass er sich nicht nur körperlich
zu mir hingezogen fühlte, sondern dass er mir aufrichtige Gefühle
entgegenbrachte – so wie ich ihm. Aber ich war nur eine Sklavin, und die Umstände
erlaubten es weder ihm noch mir, unsere Verbindung so zu leben, wie wir es uns
gewünscht hätten. Als ich schwanger wurde, wusste jeder auf der Fazenda,
einschließlich Dona Juliana, wer der Vater war. Ich war scheußlichen Demütigungen
ausgesetzt, und alles wurde noch viel schlimmer, als ich schließlich einen Sohn
zur Welt brachte. Josés einzigen Sohn! León war ein so hübsches, hellhäutiges
Kind, dass José gar nicht anders konnte, als ihn zu lieben. Er erkannte die
Vaterschaft an, gab León seinen Namen und erzog ihn zu seinem Erben. Ich selber
dagegen konnte meinen Sohn nur noch heimlich sehen.«
Dona Doralice hielt kurz in ihrer Erzählung
inne. Vitória studierte aufmerksam ihr Gesicht, doch sie sah darin weder Verbitterung
oder Hass, sondern nur Wehmut. Sie konnte nicht anders, als dieser Frau
Bewunderung entgegenzubringen. Was für ein unglaubliches Schicksal sich hinter
den Worten verbarg, die sie in ihrer Geschichte ausgespart hatte. Und was für
ein Charakter! Ihrem Sohn zuliebe verzichtet sie auf die Liebe José Castros, lässt
sich von dessen Frau und Töchtern schikanieren, nimmt die Entfremdung von León
in Kauf – damit der es eines Tages besser haben möge als sie. »Als León zwanzig
Jahre alt war, starb sein Vater und hinterließ ihm die Fazenda. Dona Juliana
war einige Jahre zuvor gestorben, und Leóns Halbschwestern waren, alle drei mit
einer üppigen Mitgift ausgestattet, längst verheiratet und fortgezogen. Leóns
erste Handlung als neuer Senhor war, dass er mir offiziell die Freiheit
schenkte.«
Das also war der Hintergrund jenes
Zeitungsartikels, über den Pedro und seine Freunde sich vor Jahren lustig
gemacht hatten! Vitória hatte den Artikel ebenfalls für das Produkt einer überbordenden
Fantasie gehalten – jetzt schämte sie sich für ihre damalige Reaktion.
»Und allen anderen Sklaven auch. Er bot allen
an, auf der Fazenda zu bleiben und für einen bescheidenen Lohn sowie eine
kleine Gewinnbeteiligung zu arbeiten. Fast alle blieben. Natürlich ging die
Umstellung nicht ganz ohne Probleme vonstatten, aber im Großen und Ganzen war
das Projekt erfolgreich: Die Leute waren motivierter, arbeiteten besser und
erwirtschafteten viel mehr Gewinn, als es Sklaven je hätten tun können. Weißt
du, Vita, Geld ist ein viel stärkerer Antrieb als die Angst vor Prügeln.«
Vitória nickte nachdenklich. »Das mag schon
sein. Und mit seinen eigenen Sklaven kann León ja auch gerne machen, was er für
richtig hält. Aber das gibt ihm doch noch lange nicht das Recht, über die
Sklaven anderer Leute zu verfügen. Er hat Félix zur Flucht verholfen, ist es
nicht so, León?« Und ohne dessen Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Das ist
Diebstahl. Nichts weiter als gewöhnlicher, niedriger Diebstahl.«
Endlich drehte sich
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