Ana Veloso
heute hatte Taís ihren freien Tag, sodass Vitória selber die Leute
einteilen musste. Isaura wurde mit Schuheputzenund dem Annähen eines Knopfes
betraut, Eleonor trug die Verantwortung für alle Toilettenartikel, Adelaide
erhielt den Auftrag, mit Hilfe der Köchin einen Korb mit Reiseproviant
zusammenzustellen, Roberto musste zur Wäscherei laufen, um dort eine Bluse
abzuholen, und Reynaldo wurde angewiesen, die Kutsche abfahrtbereit zu halten.
Spätestens um 16 Uhr wollte Vitória fertig sein, um noch den letzten Zug nach
Vassouras zu erreichen. Doch kurz nach 15 Uhr machte sich unter den
Angestellten eine merkwürdige Aufgeregtheit breit, die deren Arbeitseifer zu
bremsen und Vitórias Abreise zu verzögern drohte.
»He, Junge, was fällt dir ein?!«, fuhr sie den
Gehilfen des Gärtners an, als der mit lehmverkrusteten Füßen durch die Haustür
stürmte, in der Halle an ihr vorbeirannte und dabei beinahe eine antike
chinesische Vase umriss.
»Aber Sinhá Vitória, haben Sie es denn noch
nicht gehört?! Wir sind frei! Die Sklaverei ist abgeschafft!«
»Wenn mich nicht alles täuscht, bist du bereits
frei. Wir bezahlen dich schließlich für deine miserable Arbeit, oder etwa
nicht? Und jetzt mach, dass du wieder nach draußen kommst und etwas tust für
dein Geld!«
Erst als der Junge wieder verschwunden war, ging
Vitória die ganze Tragweite seiner Worte auf. Wenn es stimmte, was er gesagt
hatte, und die Euphorie, die von den Schwarzen im Haus Besitz ergriffen hatte,
sprach eindeutig dafür, dann standen ihr und ihrer Familie katastrophale Zeiten
bevor.
Vitória legte sich einen leichten Schal um die
Schultern und begab sich auf die Straße. Vielleicht wussten die Nachbarn
Genaueres. Doch Dona Anamaria von nebenan war genauso ratlos wie sie selbst.
Gemeinsam gingen sie zum Largo da Glória, in der Hoffnung, dass dort sicher
bald der Zeitungsbursche mit einem Extrablatt vorbeikäme. Wenn nicht dort, dann
würden sie bestimmt auf der Praça Paris mehr erfahren, die nur wenige
Gehminuten weiter entfernt lag. Bereits auf dein Weg dorthin wurde Vitória
klar, dass ihre Reise nach Boavista vorerst aufgeschoben werden musste. Wenn
schon in Rio die Schwarzen so entfesselt waren, spontane Freudentänze auf der
Straße aufführten, sich gegenseitig umarmten und gelegentlich auch die weißen
Senhores ihre aufgestaute Aggression spüren ließen, wie musste es dann erst im
Vale do Paraíba zugehen?
Die Nachricht erreichte um 15.15 Uhr das
Telegrafenamt in Vassouras. Wenig später hatte sie sich in der ganzen Stadt
verbreitet, und es dauerte keine weitere Stunde, bevor das ganze Vale von der
Neuigkeit erfahren hatte. Auf den Kaffeefeldern ließen die Schwarzen am
helllichten Nachmittag alles stehen und liegen, um sich dem Zug derjenigen
anzuschließen, die in der Stadt ihr Glück suchen wollten – die Ernte würde an
den Sträuchern verrotten. Die Baustelle der Kirche in São José das Três Ilhas,
deren zwei Türmchen schon zaghaft über das Kirchenschiff hinausragten,
verwaiste in Windeseile. Auf vielen Fazendas bekamen die Herrschaften nichts
mehr zu essen serviert, weil weder in der Küche noch im Haus auch nur ein
einziger arbeitswilliger Schwarzer mehr aufzustöbern war. Senhores, die ihre
Sklaven besonders schlecht behandelt hatten, konnten von Glück sprechen, wenn
die allzu lange unterdrückten Horden nicht über sie und ihre Familien herfielen
und ihnen mit gleicher Münze heimzahlten, was sie hatten erleiden müssen. In
den senzalas herrschte ein beinahe undurchdringbares Gewühl, weil alle
Schwarzen ihre armseligen Besitztümer – Kleidung, Strohmatten, verbeulte Töpfe,
Pfeifen, primitive Musikinstrumente, zuweilen auch Seidenblumen, Silberknöpfe
oder andere nutzlose Geschenke, die sie von ihren Besitzern erhalten hatten –
zusammenrafften und sich damit auf den Weg in ein neues Leben machten. Manch
einer stattete vorher dem Herrenhaus noch einen Besuch ab, um alles an sich zu
reißen, was ihm auch nur den geringsten Verkaufswert zu haben schien.
Die Senhores versuchten mit allen Mitteln, die
Disziplin aufrechtzuerhalten, aber angesichts der Überzahl der Schwarzen waren
sie machtlos. Erst jetzt, da sie das Gesetz auf ihrer Seite hatten und dadurch
zum Ungehorsam ermutigt wurden, stellten die Schwarzen fest, wie einfach es
schon vorher gewesen wäre, sich den Senhores zu widersetzen – wenn sie nur alle
gemeinsam gehandelt hätten. Im Herrenhaus von Boavista machte sich blankes
Entsetzen breit. Dona
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