Ana Veloso
froh, endlich einmal nichts über Radiowellen oder
Adelshochzeiten hören zu müssen – ihre Eltern waren den ganzen Januar über in
den Bergen, und León war im Süden des Landes, um seine Fazenda zu inspizieren.
Sie ließ sich an die abgelegenen Strände fahren, nach Copacabana oder sogar an
die unberührten Küstenabschnitte südlich davon, wo sie, wenn sie sich allein
wusste, barfuß und mit kniehoch gerafftem Rock durch den Sand ging und Sábado
Stöckchen apportieren ließ. Sie fuhr auf die Spitze des Corcovados und ließ
sich die kühlere, wenngleich noch immer viel zu warme Luft um die Nase wehen.
Und an Tagen, an denen die drückende Hitze ihr jeden Unternehmungsgeist raubte,
raffte sie sich wenigstens zu dem kurzen Spaziergang zur Kirche Nossa Senhora
da Glória auf, deren dicke Steinmauern das ganze Jahr hindurch für eine gleich
bleibende Temperatur im Innern sorgten.
So erging es ihr auch am 20. Januar, dem Tag des
Schutzpatrons von Rio de Janeiro, São Sebastião. Vitória war mit Sábado und
Isaura zur Kirche gegangen, nachdem die Messe vorüber war und nur noch
vereinzelte Gläubige auf den Bänken saßen. Das Mädchen blieb draußen, rettete
sich in den Schatten des überdachten Portals und haderte mit ihrem Schicksal,
das ihr heute, ausgerechnet am Tag des Oxóssi, diesen Hund aufgebürdet hatte,
der gerade auf dem Vorplatz grimmig ein Insekt verfolgte. Unterdessen saß Vitória
in der Kirche und las mit einem Gesichtsausdruck, den andere Kirchgänger als
stille Andacht gedeutet hätten, den Brief, der sie am Morgen erreicht hatte.
São Luiz, den 5. Januar 1890
Liebe Vita,
ich hoffe, du hattest ein schönes
Weihnachtsfest und ein fröhliches Silvester im Kreis deiner Lieben. Von mir
kann ich dasselbe leider nicht behaupten. Die Feiertage waren weder schön noch
fröhlich, noch waren »meine Lieben« auch nur im Geringsten lieb zu mir! Dona
Iolanda, die alte Hexe, hat mich genötigt, Mangos, Maracujas und Guaven zu
ernten und diese anschließend zu trocknen oder einzukochen. Außerdem musste ich
Wäsche waschen und die Betten beziehen. Kannst du dir das vorstellen, Vita?
Ich, Eufrásia Soares Peixoto, mit einer groben Leinenschürze, wie ich in der Küche
herumwerkele oder mir die Hände in Seifenlauge ruiniere? Dass ich mich um ein
Kind zu kümmern habe und deshalb nicht für diese Negerarbeiten zur Verfügung
stehe, interessiert die Alte nicht. Sie kennt kein Pardon. Seit uns die Sklaven
davongelaufen sind, müssen wir uns hier allein über Wasser halten, und alle
packen mit an. Es ist so schrecklich, Vita! Arnaldo ackert wie ein Feldsklave,
damit wir mit Mais, Maniok, Kartoffeln und Bohnen versorgt sind. Dona Iolanda
selber füttert die Hühner, kümmert sich um die Bienenstöcke, wischt im Haus
Staub, und mein Schwiegervater Otávio, muss Kühe melken und Schweine
schlachten! Meine kleine Tochter macht mir das Leben auch nicht leichter. Sie
sieht aus wie Arnaldo und benimmt sich schon so tyrannisch wie Dona Iolanda,
eine fatale Kombination.
Vita, meine liebste Freundin, entschuldige
dieses Gejammer und die Form dieses Briefs. Ich schreibe dir zwischen Wäschebergen,
Kindergeschrei, überschäumenden Kochtöpfen, lehmverkrusteten Stiefeln, die ich
putzen soll (das werden wir ja noch sehen), da hat man keinen Sinn mehr für schöne
Formulierungen. In Kürze erzähle ich dir eh alles persönlich. Ich muss hier
heraus, sonst sterbe ich. Und ein Besuch bei dir in Rio ist ja längst überfällig.
Ich komme am 22. Januar an und freue mich schon unbändig auf unser Wiedersehen.
Ich umarme dich und schicke dir tausend Küsse,
deine Eufrásia
Übermorgen, dachte Vitória erschrocken. Übermorgen
schon würde Eufrásia hier einfallen!
XXVIII
Eufrásia hatte sich nur äußerlich verändert.
Ihre Art hatte sie beibehalten. Mittlerweile, dachte Vitória, entsprach das
Aussehen ihrer Freundin viel mehr ihrem Wesen, als es früher der Fall gewesen
war. Dem hübschen Gesicht, umschmeichelt von dunkelblondem Haar, hatte man die
Gefühlskälte Eufrásias nie angesehen. Ihre bernsteinfarbenen Augen hatten immer
den Eindruck von Hilflosigkeit vermittelt, ihr kleiner Kussmund hatte sie
kindlich wirken lassen. Doch jetzt sprachen aus dem Antlitz Eufrásias all ihre
Charakterfehler, ihre Engstirnigkeit genauso wie ihr Egoismus. Mutterschaft,
Armut und Verbitterung hatten sie vorzeitig altern lassen. Ihre Haut war gebräunt,
was die Fältchen um ihre Augen und die Mundwinkel unschön hervorhob. Ihr
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