Ana Veloso
ihr Puls, weil sie hoffte, dass León endlich kam und sie aus
ihrer Misere erlöste. Ihre Eltern würden angesichts der Umstände in eine Ehe
einwilligen müssen, und Sechs-Monats-Babys waren keine Besonderheit. Noch wäre
Zeit, alles so zu regeln, dass sie sich und ihre Familie nicht mit Schande
bedeckte. Aber León kam nicht.
Ein herrlicher Herbst hielt Einzug – und mit ihm
morgendliches Erbrechen, unruhiger Schlaf und unerträgliche Gewissensnöte. Vitória
stand vor der schwierigsten Entscheidung ihres Lebens. Sollte sie eine Ehe mit
einem anderen eingehen oder sich das unschuldige Kind abtreiben lassen? Beides
war undenkbar. Wenn sie Rogérios Antrag annahm und auf eine schnelle Eheschließung
drängte, würde er den Grund dafür erfahren müssen, und Vitória bezweifelte,
dass er gewillt war, die Vaterschaft für den Bastard zu übernehmen. Und wenn
sie nun Edmundo zum Mann nahm? Er würde alles akzeptieren, selbst das Kind
eines anderen, wenn er nur dafür Vitória bekam. Aber nein, das konnte sie ihm
und vor allem sich selber nicht antun. Dann würde sie noch lieber die Schmach
eines unehelichen Kindes ertragen. Die andere Alternative war ebenso scheußlich.
Sie wusste, dass die Sklaven Mittel und Wege kannten, um unerwünschte
Schwangerschaften abzubrechen. Doch Vitória wusste ebenfalls, dass die Frauen
dabei nicht selten starben, sei es, weil das ihnen eingeflößte Gift zu stark
dosiert war und sowohl Fötus als auch Mutter umbrachte, sei es, weil sie
verbluteten. Und was für ein schrecklicher Gedanke, die Frucht ihrer Liebe zu töten,
das kleine, hilflose Geschöpf einfach zu ermorden! Das war wirklich eine Sünde.
Vitória stellte sich vor, wie das Kind wäre. Würde es ihre blauen Augen
bekommen, dazu seine langen Wimpern? Würde es seine langen Beine erben und ihre
störrischen Locken? Würde es ein Mädchen werden, mit ihrem Körper und seiner
hellbronzenen Haut? Oder ein Junge, mit seiner athletischen Figur und ihrem
hellen Teint? Eines war gewiss: Das Kind würde ihrer beider Intelligenz und
Temperament haben, und es wäre bildschön.
Himmel, sie musste sich das verbieten! Sie
durfte keine Liebe zu dem Kind nähren, bevor sie entschieden hatte, was als Nächstes
passieren würde. Eine dritte Alternative schloss sie von vornherein aus: Sie
konnte für längere Zeit verreisen, in der Fremde niederkommen und das Kind zur
Adoption freigeben. Aber das bedeutete ebenfalls, dass sie ihre Familie
einweihen musste, zumindest Dona Alma, und deren Vorhaltungen auf ewig mit
gesenktem Kopf über sich ergehen lassen musste. Ihre Mutter würde sie zu einem
klösterlichen Dasein zwingen und sie fortdauernd ihre Sündhaftigkeit spüren
lassen. Alles, nur das nicht! Außerdem würde Vitória für den Rest ihres Lebens
keine Ruhe mehr haben, sich immerzu fragen, was aus dem Kind geworden war. Oder
das Kind würde vielleicht eines Tages selber auf die Idee kommen,
Nachforschungen nach seiner leiblichen Mutter anzustellen. Spätestens dann würde
alles herauskommen.
Nein, ganz oder gar nicht! Entweder tauchte León
doch noch auf vielleicht hatten sich ihre Briefe gekreuzt, und sobald er ihren
in Händen hätte, eilte er sofort zu ihr? – und erlöste sie aus der quälenden
Situation, oder sie musste dem ungeborenen Leben ein Ende setzen. Sie würde
sich Luiza anvertrauen, die alte Köchin wusste bestimmt Rat.
Zwei Tage später, als Vitória die Post nur noch
aus Gewohnheit durchsah und schon gar nicht mehr mit der aufgeregten Unruhe der
Vorfreude erfüllt war, kam der lang ersehnte Brief von León. Endlich! Vitória
rannte auf ihr Zimmer und riss ihn auf.
Meine geliebte Sinhazinha,
verzeih mir, dass ich dir erst jetzt
schreibe. Dringende politische Angelegenheiten haben mich in den vergangenen
Wochen derart in Atem gehalten, dass mir alle Zeit und Muße für erfreulichere
Dinge fehlten. In Gedanken war ich immer bei dir, jeden Tag, jede Stunde, jede
Sekunde meines Lebens! Und daran wird sich auch nichts ändern, wenn ich in
Europa bin. Ja, man hat mir dort eine äußerst vorteilhafte Position angeboten,
bei der sowohl mein diplomatisches Geschick als auch meine Schreibkunst
gefordert sind, und das Einzige, was meine übergroße Freude an dieser
Herausforderung trübt, ist der Gedanke, dich nun achtzehn Monate lang nicht zu
sehen. Aber glaub mir, meine schöne Vita, ich werde mit jeder Faser meines
Herzens bei dir sein – und wenn ich zurückkehre, auch mit jeder Faser meines Körpers,
den nur du in einen
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