Ana Veloso
passiert
war. Den Schmerz hatte sie aus der Tiefe ihrer Betäubtheit wahrgenommen, den körperlichen
ebenso wie den seelischen. Als Zélia ihr das Kind entriss, hätte Vitória, wäre
sie dazu in der Lage gewesen, laut aufgeschrien, weil ihr der Rausch, in den Zélia
sie versetzt hatte, mit einer ungeahnten Deutlichkeit zu erkennen gab, wie
falsch das alles war. Himmel, es war so falsch! Wie hatte sie das nur tun können?
Sie liebte León doch, und er sie! Waren sie nicht vor Gott Mann und Frau, und
war das nicht das Einzige, was zählte? Schließlich beendete eine tiefe
Bewusstlosigkeit ihre innere Pein.
Vitória bekam nicht mit, wie Luiza heulend neben
ihrem Lager auf die Knie fiel und mit ihrer Schuld haderte. Sie erfuhr nie, wie
aufopferungsvoll Zélia sie in dieser Nacht pflegte und wusch, und sie blieb
immer im Unklaren darüber, wie sie wieder in ihr eigenes Bett gelangt war. Sie
nahm nur schemenhaft wahr, wie Dona Alma an ihrem Krankenlager saß und mit
blutunterlaufenen Augen aus der Bibel vorlas. Im Dämmerzustand erkannte sie mal
ihren Vater, der schweigend ihre Hand drückte, mal Pedro, der sie unrasiert und
mit zerzaustem Haar anstarrte wie einen Geist. Dann hörte sie wie aus weiter
Entfernung Joanas tiefe Stimme, die ihr gut zuredete. Einmal glaubte sie
Miranda zu sehen, wie sie ihr Nachthemd hochhob und ihre Wäsche wechselte,
einmal Luiza, die ihr kleine Schlückchen Rotwein einflößte und sie mit
Rinderleber fütterte.
»Das Fieber sinkt. Dem Himmel sei Dank!«, sagte
Doutor Vieira. Dona Alma bekreuzigte sich.
»Wie lange liege ich hier schon?«, flüsterte Vitória.
Dona Alma und der Arzt sahen sich an, als hätte
der Leibhaftige zu ihnen gesprochen.
»Vita, Schatz! Du bist wach!«
»Ja. Und ich habe Hunger.«
»Doutor, das Kind hat Hunger! Ist das nicht
wunderbar?« Vitória verstand nicht, was daran wunderbar sein sollte.
Dona Alma zog an der Klingel, wenig später
erschien Miranda an der Tür.
»Hol sofort etwas zu essen. Eine Hühnerbrühe,
Obst, Weißbrot. Vitória hat Hunger!« Dona Alma war völlig aus dem Häuschen. »Einen
so schlimmen Verlauf des Gelbfiebers habe ich bisher noch nie beobachtet«,
sagte jetzt der Doktor, »und noch nie kuriert, wenn ich mir das zu bemerken
erlauben darf. Es bedurfte in diesem Fall wirklich all meines medizinischen Könnens,
um das Mädchen zu heilen.«
Gelbfieber? Vitórias Verstand begann gerade erst
wieder zu arbeiten, aber dass nicht das Gelbfieber sie niedergestreckt hatte,
sondern eine ganz andere Krankheit, das war ihr wohl bewusst. Wie hatte der
Arzt zu einer solchen Diagnose gelangen können?
»Wie lange bin ich schon krank?«
»Drei Wochen, mein lieber Schatz, drei Wochen
haben wir um dich gebangt.«
Dass Dona Alma sie »mein lieber Schatz« genannt
hatte, musste mindestens fünfzehn Jahre her sein. Drei Wochen! Vitória
betastete instinktiv ihren Bauch. War alles gut gegangen? Wenn nicht, würde
sich doch inzwischen sicher eine leichte Wölbung abzeichnen, oder nicht?
»Ja, kein Wunder, dass du Hunger hast, Kind«,
interpretierte Dona Alma Vitórias Griff an den Bauch. »Du hast nur flüssige
Nahrung zu dir genommen in all dieser Zeit. Und du bist um mindestens zehn
Pfund abgemagert. Wir müssen dich jetzt dringend wieder aufpäppeln.«
»Ja, ich schlage vor, dass wir Fräulein Vitória
ein wenig von dem Trunk verabreichen, der auch Ihnen, werte Dona Alma, so gut
bekommt. Zufälligerweise habe ich ein Fläschchen dabei.«
Der Arzt öffnete besagtes Fläschchen und gab es
Vitória. Sie nahm einen Schluck daraus, schüttelte sich und gab es Doutor
Vieira zurück. Das Teufelszeug hatte mindestens vierzig Prozent.
»Ich trinke keinen Alkohol.«
Der Doktor sah Vitória konsterniert an und
packte die »Medizin« wieder in seine Tasche.
»Kaum wieder unter den Lebenden, schon wieder
ein Frechdachs wie eh und je«, versuchte er zu scherzen.
»Ach, halten Sie die Klappe, Doutor«, sagte Dona
Alma.
Vitória hätte nie gedacht, dass sich in drei
Wochen so viel ändern könnte.
Ein paar Tage später war sie wieder auf den Beinen.
Sie erkundete Boavista, als sei sie nie zuvor dort gewesen. Alles erschien ihr
anders, neu, aufregend. Dabei hatte sich gar nichts geändert auf der Fazenda.
Alles ging seinen gewohnten Gang. Luiza schikanierte die Küchensklaven, Miranda
arbeitete noch immer zu langsam, José polierte fleißig die Kutsche, die dessen
gar nicht bedurfte, und Zélia pöbelte weiterhin auf dem Hof herum.
Vitória nahm sie
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