Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
plötzlich hakte er sich bei ihr unter.
Nastja blieb stehen und war schon drauf und dran, ihm irgendeine Unverschämtheit ins Gesicht zu schleudern, doch der Kerl kam ihr zuvor:
»Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen fünfzigtausend«, sagte er vollkommen ernst.
»Klar will ich, her damit«, meinte Nastja nicht weniger ernst.
»Na ja, nicht einfach nur so.« Der Kerl lachte.
»Dann will ich sie nicht.«
Nastja drehte sich um und ging weiter, doch ihr hartnäckiger Begleiter war gleich wieder neben ihr.
»Sie müssen überhaupt nichts dafür tun. Wir gehen nur gemeinsam spazieren und Sie erzählen mir dabei, wie Sie ihre Zeit hier im Sanatorium verbringen, welche Kuren Sie nehmen, welche Arschlöcher außer mir sich noch an Sie heranmachen, danach gehen wir auf Ihr Zimmer, Sie machen Ihren Kram, ich setze mich inzwischen still in die Ecke und lese ein Buch. Ich bleibe so bis gegen zehn Uhr und dann verdufte ich wieder. Mehr nicht.«
»Und die fünfzigtausend?« fragte Nastja belustigt. Sie fing an, neugierig zu werden.
»Morgen früh. Falls Sie erlauben, daß ich später abends noch einmal bei Ihnen vorbeikomme, bringe ich das Geld auch gleich heute.«
»Hören Sie, junger Mann, wenn Sie fünfzigtausend übrig haben, dann holen Sie besser einen Dachdecker, denn Sie haben einen Dachschaden.«
Erneut schritt Nastja energisch durch die Allee davon. Der Kerl ließ sie in Ruhe.
Ihre liegengelassene Uhr hatte Nastja bereits am Morgen beim Masseur abgeholt, deshalb war sie heute sogar pünktlich beim Abendessen gewesen. Jetzt, als sie sah, daß es kurz vor elf war, beschloß sie, die Arbeit für heute zu beenden. Sie legte die fertigen Seiten in einen Hefter, klappte die Wörterbücher zu und ging auf den Balkon zum Rauchen.
Der Oktober war kalt, fast schon winterlich. Die kahlen Bäume warteten auf den Schnee, fröstelnd und einsam standen sie da, so ganz ohne Laub. Nastja kam es vor, als sei ihr innen drin genauso kalt wie diesen Bäumen. Ihre ganze Therapie heute war nichts als ein Christbaumschmuck an abgefrorenen kahlen Ästen. Genauso blödsinnig und unglaubwürdig. Ein nettes Spielchen – aber jetzt war Schluß.
Sie hatte längst zu Ende geraucht und stand noch immer gedankenverloren in der Stille. Ein leichter Frosthauch wehte sie schließlich an, sie zog die Schultern ein und erwachte aus ihrer Starre. Regina Arkadjewna nebenan schien Besuch zu haben. Nastja hörte Stimmen:
». . . so geht das nicht, das ist der reinste Pfusch. Die optische Abfolge ist dadurch unterbrochen, die Stimmung wird versaut. Die akustische Lösung zeigt keinerlei Verbindung zur optischen. Das verletzt die Harmonie, schwächt den Eindruck, läßt keine Assoziationen aufkommen. Du hast diese herrliche Musik einfach kaputtgemacht. . .«
Die Stimme der Alten konnte richtig fordernd und zornig klingen, das hätte Nastja nie gedacht. Es war ihr etwas peinlich. Sie ging zurück ins Zimmer und schloß die Balkontür. Sie hängte gerade ihre Jacke in den Schrank, als es klopfte. Draußen stand ihre Nachbarin.
»Ist etwas passiert?« fragte Nastja alarmiert, denn sie dachte daran, was ihr die Alte bei ihrer ersten Begegnung gesagt hatte.
»Ja, Nastjenka!« Die Nachbarin strahlte. »Da habe ich neulich noch gemurrt und gemeckert . . . Und nun hat man sie doch nicht ganz vergessen, die Alte! Ein Schüler von mir ist da, einer von den wenigen, die mir bis heute Freude machen. Kommen Sie, ich mache Sie miteinander bekannt. Immer nur an der Schreibmaschine zu sitzen, ist auch nichts für Sie.«
Als Nastja die freudig erregte Alte sah, brachte sie es nicht über sich, nein zu sagen. War ja verständlich, daß sie ein bißchen prahlen wollte mit einem Schüler, der es zu etwas gebracht hatte. Was für Freuden blieben einer einsamen älteren Frau denn noch?
»Ich richte mich nur noch schnell ein wenig . . .«
»Sie sehen zauberhaft aus, Nastja, rote Wangen wie nach einem Spaziergang. Kommen Sie schon.«
Als sie in das Zimmer der Nachbarin kam, stutzte Nastja unwillkürlich. Auf dem Tisch stand eine Schale mit Äpfeln, Trauben, Granatäpfeln. Daneben eine Flasche Kognak, eine Schachtel teurer Pralinen, auf einem Teller eine aufgeschnittene Zitrone. Am meisten jedoch staunte sie über einen riesigen Strauß prächtiger Chrysanthemen, deren rosa-cremefarbene Blütenblätter auf der Innenseite wie Terrakotta schimmerten. Ein großer attraktiver Mann erhob sich aus dem Sessel und kam auf sie zu. Vom Gesicht her ein klassisch strenger östli-eher
Weitere Kostenlose Bücher