Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
durch diese Tür verlassen hatten.
»Und wie konnte es dann passieren, daß du sie aus den Augen verloren hast?«
»Ich weiß es nicht.« Viktor zuckte mit den Schultern. »Ich habe das ganze Gebäude untersucht, das Geschäft besitzt keine anderen Ausgänge.«
Auch hier sagte Viktor nicht die Wahrheit, aber seine Lüge erschien ihm harmlos. Letztlich war es ja egal, wie sie ihm entwischt war. Vielleicht besaß das Geschäft noch zehn andere Ausgänge, aber das alles änderte nichts an der Tatsache als solcher. Durch seine Lüge ersparte er sich wenigstens einen Teil der Vorwürfe und Verhöhnungen.
»Sie hat sich in Luft aufgelöst wie der Morgennebel über dem Berg Ararat«, höhnte Surik und zeigte seinen bemerkenswerten Augenaufschlag.
»Halt’s Maul, sonst erfrieren dir die Zähne«, konterte Kostyrja.
»Seid friedlich, Jungs. Wer Knoblauchsauce zum Huhn will, soll die Hand heben«, versuchte Irina zu beschwichtigen. Sie hatte eine große Abneigung gegen Konflikte in ihrem Haus.
»Für mich«, meldete sich Surik sofort.
»Für mich auch.« Igor hob die Hand.
Artjom lehnte ab. Er preßte mit dem Ellenbogen den Gummibeutel mit dem Eis an seine rechte Seite.
»Und was ist mit dir, Viktor?« erkundigte sich Irina liebevoll. »Soll ich dir was drübergießen?«
»Auf keinen Fall, Irina Wsewolodowna«, mischte Surik sich wieder ein. »Knoblauch schwächt den Geruchssinn, und Kostyrja hat sich heute so blamiert, daß er als Spürhund vom Dienst seinen Geruchssinn nicht riskieren darf.«
»Halt die Klappe, sonst spuckst du noch deinen Verstand aus«, warnte ihn Kostyrja, »du hast ja sowieso nicht gerade viel davon.«
»Schluß mit den Kindereien!« unterbrach Artjom sie barsch. »Kostyrja, was hast du noch zu berichten?«
Viktor hatte bereits den Mund geöffnet, um von dem Gespräch zu erzählen, das er am Kiosk belauscht hatte, doch er hielt sich rechtzeitig zurück. Denn das Mädchen war ihm ja nicht allein entwischt, sondern zusammen mit dem Bleichgesicht. Womöglich ging es gar nicht um sie, sondern um ihn. Vielleicht war er der Boß. Und die Sache war die, daß er, Viktor, als erster den Auftrag bekommen hatte, den bleichgesichtigen Alexander Kamenskij aufs Korn zu nehmen. Nach einigen Tagen Beschattung hatte er einen detaillierten Bericht geliefert und versichert, Kamenskij sei nicht von Interesse, sowohl sein Verhalten als auch sein Umfeld seien völlig unverdächtig. Artjom hatte sich auf seine Meinung verlassen, und die ganze Aufmerksamkeit galt von da an der Goldhaarigen und ihren Kontaktpersonen. Jetzt aber sah es so aus, als hätte Viktor Kostyrja sich getäuscht, als führte die gesuchte Spur doch zum Bleichgesicht. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn es tatsächlich so war! Artjom würde nicht nur toben und ihn, Viktor, so richtig zur Sau machen, das wäre nicht das Schlimmste, er würde ihm womöglich sogar die Bezahlung verweigern und seinen Anteil unter den anderen aufteilen. Zur Strafe für seine Fahrlässigkeit und Selbstgewißheit.
Es war besser, nichts davon verlauten zu lassen, daß das Mädchen in Begleitung von Kamenskij gewesen war. Also mußte er auch das Gespräch verschweigen, das er am Kiosk belauscht hatte. Das wunderbare goldhaarige Geschöpf konnte schließlich nicht mit sich selbst gesprochen haben.
»Sonst gibt es nichts zu berichten«, antwortete er deshalb nur kurz und knapp auf Artjoms Frage.
Artjom schob den Gummibeutel entnervt zur Seite, nahm eine bequemere Haltung ein und legte die Hände vor sich zusammen. Die Brandwunde an seiner Hand war inzwischen fast verheilt und schmerzte nicht mehr.
»Dann ziehen wir jetzt Bilanz«, sagte er. »Die junge Dame hat sich als harte Nuß erwiesen. Drei Wochen lang hat sie uns an der Nase herumgeführt, hat sich völlig unverdächtig verhalten und kein einziges Mal zu erkennen gegeben, daß sie von unserem Interesse für sie weiß. Sie hat jeden Kontakt vermieden, der uns hätte verraten können, wer sie auf uns angesetzt hat. Mit einem Wort, sie hat sich völlig bedeckt gehalten. Ausgenommen an dem Tag, an dem alles begonnen hat und an dem sie Kontakt mit Berkowitsch aufgenommen hat, der mit Sicherheit zur Gruppe unserer Konkurrenten gehört. Aufgrund unglücklicher Umstände stirbt Berkowitsch aber genau an dem Tag, an dem er auf der Straße unserem lieben armenischen Freund Suren Schalikojewitsch begegnet. Hätte sich dieser tragische Zufall nicht ereignet, hätten wir Berkowitsch zwingen können, uns alles zu
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